Helene Eisig entstammte der aus Laudenbach bei Mergentheim nach Heilbronn zugezogenen weitverzweigten Familie Rosenthal. Helene war das 4. Kind aus der ersten Ehe ihres Vaters Jakob Rosenthal und der Janette geb. Moos aus Buchau. Sie war das erste Kind, das 1865 nicht mehr in Laudenbach, sondern in Heilbronn zur Welt kam. Schon 1868, dem Todesjahr von Helenes Mutter, sind Jakob und sein Bruder Lazarus Rosenthal als Weinhändler und Besitzer des Hauses Götzenturmstraße 35 in den Annalen Heilbronns zu finden. Aus der zweiten Ehe des Vaters gingen weitere 5 Kinder hervor. Auch die drei Brüder des Vaters hatten zahlreiche Nachkommen, von denen allerdings viele schon als Kleinkinder starben.
Helene Rosenthal heiratete mit 21 Jahren den 1855 in Kochendorf geborenen Kaufmann Eduard Eisig, der aus einer ebenfalls weitverzweigten Kaufmannsfamilie stammte, die ab 1860 in Heilbronn in den Bereichen Modewaren bzw. „Fruchthandel“ (d.h. Getreidehandel) geschäftlich aktiv war. Eduard Eisig war zusammen mit seinem Bruder Adolf und dessen Schwager Louis Daube Teilhaber der Firma „Eisig und Marx, Gewürz- und Darm-Import-Geschäft“. Eduards ältester Bruder Albert betrieb mit seinem Sohn Max eine „Landesproduktenhandlung“.
Das Ehepaar bekam drei Kinder, die Söhne Hermann (1888) und Wilhelm (1893), und die Tochter Johanna (1895). Alle Kinder verheirateten sich, Johanna zog zu ihrem Mann Adolf Metzger nach Stuttgart. Auch Helenes jüngere Schwester Karoline (1866) hatte nach Stuttgart geheiratet. Ihr Mann Arthur Essinger war Kaufmann. Schon sein Vater und dessen Bruder hatten in Stuttgart die Seidenwarenhandlung Gebrüder Essinger gegründet.
Helene Eisigs Mann starb 1918 in Heilbronn. Als Witwe wohnte sie in der Bergstr.7, der Geschäftsadresse der Firma Eisig und Marx, und der Adresse des jüngeren Sohnes Wilhelm, der zusammen mit seinem Bruder Hermann den väterlichen Betrieb weiterführte.
Wohl wegen den immer schwieriger werdenden Lebensbedingungen unter der Naziherrschaft zog Helene Eisig im Oktober 1938 von ihrem Heimatort Heilbronn nach Stuttgart zu ihrer seit 1937 verwitweten Tochter Johanna Metzger. Diese bewohnte ab ihrer Heirat 1919 mit Adolf Metzger hier in der Relenbergstraße eine große, sehr gut ausgestattete Wohnung, wie aus den Entschädigungsakten im Staatsarchiv Ludwigsburg hervorgeht. Kinder hatten sie keine.
Passantrag von Johanna u. Adolf Metzger von 1923, Staatsarchiv Ludwigsburg
Adolf Metzger, dessen Familie aus Berlichingen bei Heilbronn stammte, betrieb mit seinem jüngeren Bruder Hermann eine bedeutende Röhrengroßhandlung, ab den 20er Jahren mit eigenem Gleisanschluss in Stuttgart-Wangen. Die Firma genoss hohes Ansehen, sie belieferte Stadtwerke und andere öffentliche Einrichtungen, auch im weiteren Umland. Ab 1933 verlor sie allerdings immer mehr Kunden, da „Geschäfte in jüdischem Besitz“ nun von Amts wegen zunehmend boykottiert wurden.
Adolf Metzger starb 1937 in Heidelberg, nach einem wohl krankheitsbedingten Aufenthalt von nur wenigen Tagen.
Im Jahr 1940, nachdem per Gesetz vom 30. April 1939 Juden nur noch in Häusern wohnen durften, die (noch) im Besitz von Juden waren, mussten die beiden Frauen in die Rosenbergstraße 103 in ein „Judenhaus“ ziehen.
Am 1. Dezember 1941 wurde Helene Eisigs Tochter, die wenige Tage zuvor ihren seit 1936 in Stuttgart lebenden Vetter Carl Eisig (geb. 1877) geheiratet hatte, mit diesem vom Killesberg aus nach Riga deportiert und dort ermordet, zusammen mit ihrem ältesten Bruder und dessen Frau. Auf dem Stolperstein für Johanna müsste daher korrekterweise „Johanna Eisig, verw. Metzger, geb. Eisig“ stehen. Zuvor hatten die Behörden alle Betroffenen gründlich ausgeplündert, die entsprechenden „Gesetze“ waren laufend den Absichten des Regimes angepasst worden. Stichworte sind zwangsweiser Verkauf unter Wert oder auch „Einzug“ von Firmen und Häusern, Sperrkonten für den Erlös aus den Zwangsverkäufen, „Reichsfluchtsteuer“ verbunden mit Einzug des verbliebenen Vermögens, „Judenvermögensabgabe“ oder „Judensühnesteuer“, die nach dem Novemberpogrom 1938 ersonnen wurde.
Besonders perfide waren die „Heimeinkaufsverträge“, mit denen ab 1942 den älteren und alten Menschen vorgegaukelt werden sollte, sie kämen in reguläre Altersheime. Stattdessen waren die vorläufigen Zwangsumsiedelungsorte meist Häuser in Gemeinden, in denen es eine jüdische Gemeinde gegeben hatte oder noch gab, wie Buchau, Buttenhausen oder Haigerloch, oder aber heruntergekommene Schlösschen und Herrenhäuser wie in Dellmensingen, Tigerfeld oder Weißenstein, wo die Menschen in drangvoller Enge auf ihre endgültige „Umsiedlung nach dem Osten“ warten mussten.
Da es ihrem jüngeren Sohn Wilhelm im März 1939 gelungen war, mit seiner Familie in die USA zu emigrieren, war Helene Eisig nun ganz auf sich gestellt. Wie aus dem kürzlich erschienenen Buch „Das jüdische Zwangsaltersheim Eschenau und seine Bewohner“ hervorgeht, verbrachte sie noch kurze Zeit im jüdischen Altersheim in Stuttgart in der Heidehofstraße 9, bevor sie im Januar 1942 nach Eschenau bei Heilbronn zwangsumgesiedelt wurde. Dort traf sie wieder mit ihrer Schwester Karoline Essinger und deren Mann Arthur zusammen. Auch Emma Vogel geb. Sauer (Jg. 1869), die Schwiegermutter von Helenes Sohn Hermann, war dort einquartiert worden. Von da aus erfolgte am 22. August 1942 die Deportation nach dem angeblichen Altersheim Theresienstadt. Dort starb Helene Eisig laut „Todesfallanzeige Ghetto Theresienstadt“, ausgestellt vom „Ältestenrat“, am 4. September um 14:45 Uhr an „Enteritis, Durchfall“ auf dem Dachboden von Haus V im Alter von 77 Jahren. Als behandelnder Arzt erscheint „Dr. Walter Freund“, die Todesschau wurde von Dr. Leo Honigwachs durchgeführt, als Amtsarzt unterschrieb Dr. Fleischmann. (s. www.holocaust.cz )
Das Schicksal der Familien Eisig und Rosenthal aus Heilbronn zeigt exemplarisch, welches unfassbare Unrecht das Naziregime diesen Menschen, die als rassisch nicht zugehörig diffamiert wurden, angetan hat. Mit Johanna Eisig-Metzger und Carl Eisig wurde ihr Bruder Hermann Eisig und seine Frau Melitta geb. Vogel nach RIGA deportiert und dort ermordet, ihr Sohn Hans Eduard (Jg. 1923) erlitt dasselbe Schicksal 1943 in Auschwitz. Die Nichte Eugenie Luise Rosenthal (Jg.1905) hatte ihre Flucht nach England aus Heimweh in Köln abgebrochen. Im Familienblatt ihrer Eltern ist akribisch vermerkt, sie habe ab dem 1.Januar 1939 den weiteren Zunamen „Sara“ hinzuzufügen. Nun fuhr sie mit in den Tod. Als weitere Eisig-Verwandte war Hedwig Eisig geb. Strauss (Jg. 1879) aus Heilbronn mit im Zug. Einzig Helenes zweiter Sohn Wilhelm und Familie konnte in die USA entkommen.
Eine noch deutlich größere Zahl von Verwandten saß wenige Monate später zusammen mit Helene Eisig im Deportationszug nach THERESIENSTADT: ebenfalls von Eschenau aus ihre Schwester Karoline Essinger mit ihrem Mann Arthur und ihre Schwägerin Emma Vogel; aus Heilbronn kamen ihr Bruder Max (Jg. 1872), der Vater von Eugenie Luise, ihr Vetter Hermann Rosenthal ((Jg. 1873) mit Frau Clementine geb. Bamberger (Jg. 1889), ihre Kusine Lina Nahm (Jg. 1870), sowie aus Stuttgart ihr Vetter, Bankdirektor Moritz Rosenthal (Jg. 1874) und seine Frau Irma geb. Selz (Jg. 1882). Auch der etwas weitläufiger Verwandte Bankier Gottfried Gumbel (Jg. 1873) und seine Frau Selma geb. Frank saßen am 22. August mit im Zug, ebenso Lina Bloch geb. Eisig (Jg. 1862), eine Tochter von Louis Eisig, somit eine Kusine von Helenes Mann Eduard Eisig. Für sie, ihre beiden Söhne und eine Schwiegertochter liegen Stolpersteine vor dem Haus Johannesstr.66.
Von Frankfurt/Main aus war schon wenige Tage zuvor Helenes Schwester Bertha Stern (Jg. 1874) in Theresienstadt eingetroffen.
Zu ergänzen ist, dass Helenes Nichte Else Grünberger (Jg. 1897) 1943 von Breslau aus ebenfalls nach Theresienstadt deportiert wurde und dort umkam. Emma Dornacher, eine weitere Schwester Helenes, wurde im Ghetto Litzmannstadt ermordet. Rechtsanwalt Dr. Siegfried Gumbel, der Mann von Helenes verstorbener Kusine Ida, war bereits im Januar 1942 in Dachau umgekommen. Lina Blochs Nichte Anna (Jg. 1885) und deren Mann Hermann Wolf (Jg. 1878) gelangten beide über Westerbork nach Bergen-Belsen, wo sie im Januar 1945 umkamen.
Die Liste ist unvollständig. Weitere Verwandte der Familien Eisig und Rosenthal wurden zu verschiedenen Zeiten an unterschiedliche Orte deportiert und ermordet. Einige nahmen sich das Leben, um einer Deportation zu entgehen.
Zum Glück sind auch eine ganze Reihe Angehörige, vor allem der jüngeren Generation, rechtzeitig aus Deutschland emigriert, nach England, in die USA, nach Palästina und nach Argentinien.
Die plausibelste Erklärung, warum nicht mehr Familienangehörige sich noch rechtzeitig zur Flucht entschlossen, ist sicherlich die Gewissheit dieser Familien, dass sie jahrhundertelang in der Gegend um Heilbronn beheimatet waren und eine Ausrottungspolitik wie die der Nazis ganz unvorstellbar war.
Für uns Heutige ist es daher besonders wichtig uns klar zu machen, dass Ausgrenzung, Fremdenhass und nicht zuletzt Besitzgier am Beginn einer Entwicklung standen, die letztlich zum Massenmord an Juden, an sogenannten „Zigeunern“, an Zeugen Jehovas, an Schwulen und schließlich an geistig oder psychisch Behinderten, den „unnötigen Essern“, führte.
Susanne Bouché
Quellen:
Stadtarchive Stuttgart und Heilbronn, Adressbücher
Staatsarchiv Ludwigsburg, Wiedergutmachungsakten
Hans Franke, Geschichte und Schicksal der Juden in Heilbronn,1963
Maria Zelzer, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden,1964
Martin Ulmer u. Martin Ritter, Das Jüdische Zwangsaltersheim Eschenau und seine Bewohner,2013
u.v.a.