Helene Wöhr wird geboren am 19. Juni 1915 in Stuttgart als uneheliches Kind der Schneiderin Anna Sofie Bauer und des jüdischen Viehhändlers Siegfried Ullmann.
Anna Sofie, deren Mutter evangelisch und deren Vater jüdischer Herkuft ist, stammt aus Oberdorf bei Bopfingen im Ostalbkreis. Helene lebt bis zu ihrem 3. Lebensjahr bei den Eltern ihrer Mutter in Oberdorf. Ihre Mutter heiratet im Jahr 1919 Conrad Daniel Wöhr aus Feuerbach, der ein Jahr später Helene adoptiert und ihr seinen Namen gibt. Nach der Klassifizierung des Naziregimes ist Helene Halbjüdin, also so genannter Mischling 1. Grades.
Anna, Conrad und Helene nehmen in den 1920er Jahren ihren Wohnsitz in Feuerbach in der Pragstraße 86, heutige Oswald-Hesse-Straße 86. Sie bewohnen hier eine Mansardenwohnung im 3. Stock des Hauses. Im Jahr 1929 zieht die Familie in die Seestraße 32, heutige Kruppstraße. Helenes Stiefvater arbeitet zunächst als Vorarbeiter, dann als Packer und schließlich als Hausmeister bei der Lack- und Farbenfabrik Paul Lechler & Söhne.
Im Dezember 1922 werden Helene, ihre Mutter und ihr Stiefvater in die Neuapostolische Kirche in Feuerbach aufgenommen. Mit 7 Jahren besucht Helene die Bismarckschule, die sie im Jahr 1930 abschließt. Weil sie sehr kinderlieb ist, macht sie nach ihrer Schulzeit eine Ausbildung zur Kinderpflegerin im privaten Kindergarten von Elisabeth Straub in Stuttgart-Weißenhof und besucht das Fröbelseminar. Um zum Staatsexamen zugelassen zu werden und um den Beruf der Kindergärtnerin ausüben zu dürfen, ist eine mehrjährige Praxis vorgeschrieben. Damit Helene ihr Ziel erreicht, arbeitet sie in verschiedenen privaten Haushalten als Kinderfräulein. Sie muss aber alle Stellen aufgeben wegen ihrer jüdischen Herkunft, obwohl ihr beste Zeugnisse ausgestellt werden. 1936 wird ihr die Zulassung zum Staatsexamen verwehrt wegen der Rassegesetze des Naziregimes, die 1935 in Kraft getreten sind. Von 1939 bis 1940 kümmert sich Helene Wöhr im Haus des Feuerbacher Drogisten Kurt Heydt um die drei Kinder der Familie und hilft auch tatkräftig im Haushalt mit. Auf Druck der Nazis muss sie auch hier ihre Stellung aufgeben. Helene entschließt sich im März 1941, einen kaufmännischen Beruf zu erlernen, beginnt eine Lehre zur Bürogehilfin im Christlichen Verlagshaus in der Senefelder Straße und besucht die Private Handelsschule Zimmermann.
Im Verlagshaus ist sie beliebt, und man erhofft sich von ihr eine dauernde Mitarbeit im Unternehmen. Aber schon im November 1941 muss sie die Lehre abbrechen. Einen Tag später, am 27. November 1941, wird sie von der Gestapo verhaftet und zur Sammelstelle auf den Killesberg verschleppt. Am 1. Dezember 1941 wird sie mit dem ersten großen Stuttgarter Judentransport in das Konzentrationslager Riga-Jungfernhof (Lettland) deportiert. Vor dem Abtransport darf sich Helene nicht mehr von ihren Eltern in der Kruppstraße verabschieden. Eine SS-Helferin, die im KZ Riga im Einsatz ist, überbringt Helenes Mutter einen Brief vom 30. April 1942, in dem ihre Tochter Helene schreibt: “Ich bin nun auch zum Tode verurteilt. Wenn es nur schon vorüber wäre.” Ein Abschiedsbrief. Denn danach erhält die Mutter keine Nachricht mehr von ihrer geliebten Tochter.
Nach Aussage des Suchdienstes für politisch und rassisch Verfolgte in Stuttgart ist Helene Wöhr in Riga ums Leben gekommen. Zeitpunkt und Umstände sind nicht bekannt. Der 30. April 1943 wird amtlicherseits als ihr Todestag festgesetzt. Vermutlich ist sie im Sommer 1942 im KZ Riga im jungen Alter von 27 Jahren nach vorangegangenen Misshandlungen ermordet worden.
Ihr Name ist vermerkt auf dem Mahnmal, das auf dem Feuerbacher Friedhof steht. Am 10. November 2006 wurde für Helene Wöhr vor dem Haus in der Oswald-Hesse-Str. 86 ein Stolperstein gesetzt .
Recherche und Text: Heinz Wienand, Stolperstein-Initiative Stuttgart-Feuerbach
In dem im Markstein-Verlag erschienenen Buch “Stuttgarter Stolpersteine – Spuren vergessener Nachbarn” berichtet Heinz Wienand ausführlich über Helene Wöhrs Schicksal. Dort findet sich auch ein Verzeichnis der verwendeten Quellen.