Johanna Schwersenz wird am 16.8.1867 unter dem Familiennamen Gerst in Lexington USA geboren.
Sie entstammte der alteingesessenen Stuttgarter Familie Johann Gerst, die in der Poststraße 11-13 eine Handschuhfabrikation betrieb, später auch noch Strumpfwaren produzierte.
Kinder und Ehefrau arbeiteten mit im Betrieb. Doch anders als in der Geschäftsführung damals üblich, ließ Johann Gerst den Sohn Karl und die drei Töchter Agnes, Alwine und Johann am Geschäft teilhaben. Zu Johannas Heirat mit Jakob Schwersenz zahlt ihr Vater sie 1935 aus. Sie wohnt jetzt in der Frühlingshalde 10, in einem Ein-Familienhaus, das ihr Ehemann schon in den zwanziger Jahren in der neu angelegten Siedlung gebaut hatte. Jakob, ihr Ehemann, stirbt am 12.12.1938 und wird auf dem israelitischen Teil des Pragfriedhofs beigesetzt.
Als jüdische Witwe und Hausbesitzerin erlebt sie eine deprimierende und grauenvolle Zeit: Mit dem Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden vom April 1939 werden viele jüdische Familien gezwungen, sich in Häuser jüdischen Besitzes einzumieten. So findet die Großfamilie Wilhelm Kohn aus der Kolbstraße 4c ab dem 1.4. 1940 in der Frühlingshalde 10 eine neue, beengte Unterkunft. Dazu noch drei weitere Untermieter. Den jüdischen Hausbesitzern in Stuttgart bleibt ab August des Jahres 1939 nur die Alternative zu verkaufen und auszuwandern.
Alleinstehend, ohne Kinder und im hohen Alter erkennt Johanna Schwersenz die Zeichen der Zeit: eine Ausreise ist noch über ein Barvermögen möglich. So sucht sie unmittelbar nach dem Tode Ihres Mannes einen Käufer für ihr Haus. Der Nachbar Karl Gramm in der Frühlingshalde 8 zeigt Interesse, sie bietet ihm das Anwesen zum Kauf an. Doch der Verkauf wird nicht genehmigt. Denn auch die BDM-Stabsleiterin Helene Konzelmann hat die Zeichen der Zeit erkannt: profitorientiert und gut vernetzt in Partei und Verwaltung macht sie ihren Einfluss geltend und erwirbt das Haus und die mit kostbaren Möbeln ausgestattete Wohnung der Witwe am 24.10.1941 bei einem Einheitswert von 12.400 RM zum äußerst günstigen Preis von 13.000 RM. Zudem macht die NS-Stabsleiterin es möglich, dass der kostbare Hausstand ohne Entgelt in den Besitz der NS-Frauenschaft übergeht. Selbst der Erlös aus einer sonst üblichen Versteigerung des Hausrats blieb Johanna Schwersenz verwehrt. Zudem hatte sie ihr nun in den Besitz der Stabsleiterin übergegangenes Eigentum zu verlassen und findet ab Frühjahr 1940 in der Gerokstraße 17 eine neue Unterkunft, mit nur noch wenig eigenem Hausrat in einem überbelegten Judenhaus.
Im Zuge der städtischen Wohnungspolitik wird die alte Dame im Alter von 74 Jahre am 14.10. 1941 nach Haigerloch umgesiedelt. Dort lebt sie für kurze Zeit im Anwesen Haag 280, einem durch Stuttgarter Juden überbelegten Haus des jüdischen Besitzers A. Ullmann. Nach nicht einmal 100 Tagen In Haigerloch stirbt sie am 17.01.1942 und entgeht so dem Schicksal vieler betagter Stuttgarter Juden, die im August 1942 über das Sammellager am Killesberg nach Theresienstadt deportiert wurden. Johanna Schwersenz wurde nicht auf dem jüdischen Friedhof in Haigerloch begraben, sie liegt neben ihrem Ehemann auf den Israelitischen Teil des Pragfriedhofs. Es steht zu vermuten, dass die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD) ihr diesen letzten Akt menschlicher Würde und Achtung ermöglichte.
Recherche und Text: Jupp Klegraf, Initiativkreis für Stolpersteine Stuttgart-Nord