Bei der Stolpersteinverlegung für Jürgen Meissner am 9.7.2020 erzählte sein Bruder, Professor Dr. Claus Meissner über seine Erinnerungen und seinen kleinen Bruder etwa mit folgenden Worten:
Es waren schlimme Zeiten, als meine Eltern mit ihren zunächst zwei, dann drei Kindern von 1936 bis 1944 ihre Familienwohnung im Erdgeschoss des Hauses Gustav-Klein-Straße 47 (heute Nr. 4) in Stuttgart-Feuerbach hatten. Aber wir Kinder wuchsen recht unbeschwert auf, hatten unsere Spielkameraden und waren gut behütet in einem Feuerbacher Kindergarten und in der Bismarck-Schule untergebracht, bis uns ein fürchterlicher Bombenangriff auf die Fa. Bosch im Frühjahr 1944 aus Stuttgart vertrieb.
Am 9. Juli 1939, nur wenigen Wochen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wurde das dritte Kind meiner Eltern, Jürgen, geboren. Für die Familie begannen unruhige Zeiten. Jürgen war anders als wir. Wie anders, wussten wir Brüder nicht. Aber wir bekamen schon mit, dass er tags und nachts viel weinte und schrie, ständiger Fürsorge der Eltern, vor allem der Mutter bedurfte.
Eines Tages im Herbst 1941 standen – ich war damals knapp sechs Jahre alt – zwei fremde Menschen in unserem Kinderzimmer und ließen sich von meiner Mutter unseren kleinen Bruder Jürgen aushändigen. Meine Mutter weinte schrecklich, das sehe ich noch vor mir. Die Fremden nahmen den kleinen Jungen mit. Meine Mutter erklärte mir, dass er sehr krank sei und in ein Krankenhaus gebracht werden müsse, wo er wieder gesund werden solle.
1 ½ Jahre später, im Mai 1943, kam ein weiteres Brüderchen ins Haus. Über Jürgen wurde in der Familie nie mehr gesprochen. Wir Kinder spürten, dass wir mit Fragen an unsere Eltern Wunden aufreißen würden. Wenn ich vieles am Verhalten meiner Eltern nicht einordnen konnte, so weiß ich heute, dass es ein Teil dieses auf ewige Zeiten nicht zu bewältigenden schrecklichen Ereignisses war.
Erst in fortgeschrittenem Alter und als meine Eltern längst nicht mehr lebten, fassten meine Frau und ich den Entschluss, dem Schicksal meines Bruders auf den Grund zu gehen. Über das Stuttgarter Standesamt führte uns der Weg auf den Eichberg, die damalige Landesheilanstalt bei Eltville. Von einem ehemaligen Standesbeamten und Archivar erhielt ich die Sterbeurkunde mit dem Todesdatum 10.12.1941.
Der kleine Jürgen ist im Herbst 1941 nicht in ein Krankenhaus, sondern direkt in die sogenannte Kinderfachabteilung auf dem Eichberg gebracht worden. Dort wurde er, wie hunderte andere behinderte Kinder, umgebracht, und es wurde dann den Eltern, denen man eine fürsorgliche Pflege versprochen hatte, die Dutzend-Nachricht übermittelt, dass ihr Kind an einer schweren Lungenentzündung verstorben sei.
Jürgen litt am Down-Syndrom, wäre also nie wieder gesund geworden. Aber er hätte trotzdem, wie wir alle wissen, ein glücklicher Mensch werden können.
Wir haben seit heute vor meinem ersten Elternhaus in Stuttgart-Feuerbach eine sehr eindrucksvolle Gedenkstätte.
Recherche und Text: Heinz Wienand, Stolperstein-Initiative Feuerbach/Weilimdorf,
mit Erzählungen des Bruders von Jürgen Meissner