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Julius Beickert, Rütlistr. 59

Im Polizeigefängnis umgebracht, weil sein unehelicher Vater Jude war

„Die Judensau soll verrecken!“ schrie der Lagerleiter Eberle des Polizeigefängnisses Welzheim, als Mithäftlinge ihn auf den bedauernswürdigen Zustand von Julius Beickert aufmerksam machten. Seit seiner Einlieferung wurde Beickert vom Lagerleiter gequält.
Der Mithäftling Wilhelm B.: „Da Beickert Mischling war, war das der Hauptgrund ihn besonders stark zu schikanieren. Er musste, obwohl schwer herzleidend, auf Anordnung des Lagerleiters bzw. der Stuttgarter Gestapo dauernd schwere Grabarbeiten verrichten. Als er erschöpft und von Herzschwäche befallen nicht mehr weiterarbeiten konnte, wurde er als Simulant behandelt. Der Lagerleiter Eberle persönlich warf ihn mehrfach aus der Falle. B. lag dann in beklagenswertem Zustand ca. 1 Woche im Bett.“

Der Lagerleiter ließ ihn erst ins Krankenhaus Welzheim schaffen, als er bereits tot war. Nach Aussage desselben Mithäftlings gab Beickert die Schuld an seiner Verhaftung und seinem Tod, den er erwartete, nicht der Gestapo, nicht dem Nazisystem oder dem Lagerleiter sondern seiner Frau. Er war kein Gegner des Regimes, das ihm u.a. die außereheliche Beziehung zu einer „Arierin“ verbot. Lange wusste er nicht, dass sein unbekannter, unehelicher Vater Jude war.
Julius Beickert wurde am 29.8.1898 in Eubigheim geboren. Er nahm am Ersten Weltkrieg teil und wurde dort schwer verletzt, was zu einer Anerkennung als Schwerbeschädigter und einer Rente vom Versorgungsamt führte. Seine Frau Elise heiratete er am 22.10.27. Beickert war häufig arbeitslos oder nur kurz beschäftigt. Einmal erhielt er von der Nationalen Front Unterstützung gegen einen Arbeitgeber, der ihm wegen der Kürze des Arbeitsverhältnisses kein Zeugnis ausstellen wollte. Frau Beickert trug die meiste Zeit zum Lebensunterhalt der Familie bei. 1939 zogen die Eheleute nach Zuffenhausen, wo Herr Beickert bei der Firma Adolf Zaiser arbeitete. 1941 wechselte er zur Firma Hesser, Maschinenfabrik Bad Cannstatt, in der er bis zu seiner Verhaftung 1943 arbeitete. Die Ehe war nicht gut. Die Eheleute lebten zeitweise getrennt und in der Cannstatter Firma hatte er ein außereheliches Verhältnis mit einer Kollegin.

Nach dem Krieg stellte Frau Beickert einen Antrag auf Entschädigung für die Ermordung ihres Mannes. Hätte sie das gewagt, wenn sie ihn denunziert hätte? Sie konnte nicht wissen, dass die Beweise zum Fall Beickert auf den „Befehl Nero“ in den letzten Tagen der NS-Diktatur vernichtet worden waren, riskierte also, wenn sie die Schuldige war, eine Strafverfolgung. Sie konnte zu Ihren Gunsten Briefe ihres Mannes aus dem Polizeigefängnis Welzheim vorlegen, in denen er sie nicht der Tat bezichtigte. Sie vermutete, dass die Gestapo auf ihren Mann aufmerksam wurde, weil er einen Blockleiter beschimpft und angegriffen hatte, der von ihm korrekte Verdunkelung verlangte. Es kam zum Prozess und damit wurde auch seine uneheliche Herkunft öffentlich, was in der NS-Zeit einen Menschen schon verdächtig machte. Frau Beickert legte nach 1945 auch den Zeitungsbericht über den Verdunkelungsprozess vor

Die Reue kam 3 Monate zu spät…
600 Mark mußte der Angeklagte jetzt für seine Rüpelei bezahlen. Nach dem Gutachten des Gerichtsarztes, eine unbeherrschte, zu explosive Verstimmung neigende Natur, ließ der 41 Jahre alte Julius B. von Zuffenhausen an einem Novemberabend seinem brutalen Ungestüm freien Lauf, was ihn teuer zu stehen kommen sollte. An diesem Abend fiel es mehreren Passanten auf, dass die Wohnung des B. nicht genügend abgedunkelt war. Wie sich dann herausstellte, hatte B. vergessen, eine Verbindungstüre zu schließen, durch die das Licht in ein anderes Zimmer und von da ins Freie drang. Um die gleiche Zeit kam der Blockleiter vorbei, der pflichtgemäß den B. auf die mangelhafte Abdunkelung aufmerksam machte. Statt die Mahnung ebenso ruhig entgegenzunehmen und das Versäumte nachzuholen, eilte B. auf die Straße und beschimpfte den Blockleiter mit Ausdrücken wie Lümmel, Lügner und Lausbube und schlug ihn plötzlich und unvermittelt mit der Faust ins Gesicht. Über drei Monate dauerte es, bis B. endlich sein Unrecht einsah, das er nun durch eine Entschuldigung, die er durch seine Frau überbringen ließ, aus der Welt schaffen wollte. Nun war es aber zu spät, da inzwischen ein Strafverfahren gegen ihn wegen Körperverletzung und öffentlicher Beleidigung eingeleitet worden war. Vor dem Stuttgarter Amtsgericht gab B. seine unerhörte Entgleisung zu und gab früheren Kriegsverletzungen, die er erlitt, die Schuld. Nach dem ärztlichen Gutachten standen diese aber damit in keinem Zusammenhang. In seiner Anklagerede wies der Staatsanwalt darauf hin, dass im Krieg jede Disziplinlosigkeit mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden müsse und beantragte gegen den Angeklagten vier Wochen Gefängnis. Das Gericht sah jedoch mit Rücksicht auf die bisherige Straflosigkeit des B. und seinen im Weltkrieg bewiesenen Einsatz ausnahmsweise von einer Gefängnisstrafe ab und erkannte auf eine Geldstrafe von RM 600.-“

Frau Beickert meint, dass dieser Fall ungeheuer aufgebauscht wurde und der Anlass war, dass die Gestapo ihren Mann ins Visier nahm. Merkwürdig bleibt immerhin, dass auch Zeugen, die Frau Beickert der Denunziation bezichtigen, gleichzeitig angeben, er sei wegen defaitistischer Äußerungen verhaftet worden. Da Beickert absolut kein Regimegegner war, könnte das auf diesen Fall hindeuten.

Wirklich verwirrend wird der Fall Beickert, wenn man sich die Aussagen des ehemaligen Kriminalsekretärs O. betrachtet. Bei der ersten Vernehmung sagt er aus: „Wir erhielten eines Tages Mitteilung, dass der Ehemann Beickert Halbjude sei und ein Verhältnis mit einer Arierin habe. Von wem diese Mitteilung ausging, kann ich heute nicht mehr sagen. Es kann aber auch sein, dass sie von der Ortsgruppe der NSDAP kam. Ich nehme aber bestimmt an, daß Frau Beickert dahintersteckt, denn sie war die Einzige, die ein Interesse daran haben konnte. Ob die Mitteilung schriftlich oder telefonisch gemacht wurde, weiß ich nicht mehr. Ich habe darauf den Ehemann Beickert vorgeladen, ihn verwarnt und ihm aufgegeben, das Verhältnis zu lösen. Für den Fall, dass er der Auflage nicht nachkäme, eröffnete ich ihm, dass er in Schutzhaft genommen werden müsste. Es bestand damals eine Anordnung, daß alle Mischlinge ihre Verhältnisse zu Arierinnen zu lösen hätten, andernfalls sie in Schutzhaft genommen werden müssten. Einige Zeit darauf erhielten wir die Mitteilung, daß Beikert wieder mit der Arierin gesehen worden sei. Wer diese Mitteilung gemacht hat, kann ich ebenfalls nicht mehr sagen. Darauf begab ich mich zu der Firma, bei der Beickert arbeitete und nahm ihn dort in Haft. Schon bei der ersten Vernehmung hatte Beickert unumwunden zugegeben, dass er das Verhältnis habe und auch nach der Verhaftung gab er zu, das Verhältnis fortgesetzt zu haben… Bei der ersten Vernehmung des Beickert gab dieser an, er wisse nichts davon, daß er Halbjude sei, ihm sei nur bekannt, dass seine Mutter von einem Juden eine Geldabfindung erhalten habe. Ich habe darauf erste Ermittlungen angestellt und die Mutter des Beickert vernehmen lassen und diese bestätigte, dass sein Erzeuger ein Jude sei.“

Auffällig ist, dass sich O. an alles gut erinnert, nur nicht von wem die Anzeige kam. Dass er zu mindestens andeutete, dass die Anzeige auch von der NSDAP gekommen sein könnte, missfiel dem Justizministerium. Am 5.2.49 schaltete es sich ein und machte O. auf die Aussage einer anderen Zeugin aufmerksam, die ganz sicher sei, dass die eifersüchtige Ehefrau die Anzeige gemacht habe. Das Ministerium hielt die Zeugin für überaus zuverlässig und bedrängte O., dass er sich doch auch an die Ehefrau als Denunziantin erinnern müsse. Daraufhin gab O eine handschriftliche Erklärung ab, in der er nun auch eindeutig die Ehefrau bezichtigte. Ein unerhörter Vorgang von Zeugenbeeinflussung!

Die Aussage der als zuverlässig geltenden früheren Gestapoangestellten lautet: „Der Fall B ist mir aus den Akten des Referats Schutzhaft bekannt. B. wurde wegen defaitistischer Äußerungen festgenommen und für 6 Monate ins KZ Welzheim eingeliefert. Er unterhielt ein Liebesverhältnis mit einer Angestellten seines Betriebes, wovon seine Frau Kenntnis hatte und aus Eifersucht ihren Mann bei der Gestapo zur Anzeige brachte.“
Wie verträgt sich die Anzeige der eifersüchtigen Ehefrau mit der Behauptung, er sei wegen defätistischer Äußerungen verhaftet worden?
Nachdem das Justizministerium die Zeugenaussagen bekommen hatte, die es wollte, lehnte es mit Datum vom 12.4.49 den Antrag auf Wiedergutmachung der Ehefrau mit folgender Begründung ab: „Sie haben den Anspruch auf Wiedergutmachung verwirkt, da Sie nach den getroffenen Feststellungen Ihren Ehemann selbst bei der Gestapo angezeigt und hierdurch seine Verhaftung herbeigeführt haben“. Wäre die Konsequenz dieser Feststellung nicht gewesen, dass die Ehefrau sich für ihre Denunziation hätte verantworten müssen?

Der Fall Beickert lässt viele Fragen offen. Eindeutig lässt sich heute nicht mehr feststellen, aufgrund wessen Anzeige er verhaftet wurde. Es ist nicht auszuschließen, dass es die Ehefrau war, aber warum hat sich dann das Justizministerium so skandalös verhalten? Gab es einfach die Direktive, möglichst viele Wiedergutmachungsanträge abzuweisen oder war jemand in dieser Richtung übereifrig? Deutlich wird, dass Beickert seine Kollegin sehr geliebt haben muss und dafür sein Leben riskiert hat.

Der Stolperstein für Julius Beickert wurde am 10. November 2006 verlegt.
Die Inschrift lautet:

HIER WOHNTE
JULIUS BEIKERT
JG. 1898
VERHAFTET 4.11.1943
GESTAPOHAFT
IN WELZHEIM
TOT 19.1.1944

Recherche und Text: Inge Möller, Stolperstein-Initiative Zuffenhausen
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg
Kontakt: Inge Möller