Bis zur Bombennacht des 22. Juli 1944 war die obere Seestraße ein großbürgerliches Wohnquartier. Anders als es die Baustaffel von heute festlegt, waren die 4-stöckigen Häuser nicht quer zur sondern längs der Seestraße angelegt. Der Grundriss zeigt eine für Wohnungen damals großzügige Aufteilung. Hier in der begehrten Hanglage des Stuttgarter Talkessels haben recht wohlhabende Leute gewohnt. Die Gebäude Seestraße 112 und 114 waren im Besitz jüdischer Bürger.
Mit dem Nazi – “Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden” vom 30. April 1939 gab es einen weiteren brutalen Eingriff in die Privatsphäre dieser Menschen. In kürzester Zeit mussten Juden aus arischem Hausbesitz ausziehen und in den so genannten Judenhäusern bei jüdischen Hausbesitzern unterkommen, die umgekehrt ihren “arischen” Mietern kündigen mussten. Langjährige, freundschaftlich gepflegte Beziehungen in diesen Häusern wurden aufgebrochen. Der Wohnraum der Neueingezogenen war begrenzt, viele wurden gezwungen, ihren alt vertrauten Hausrat aus der alten Wohnung aufzugeben. Zimmer und Flure im neuen Domizil waren vollgestopft mit Dingen, von denen man sich nicht trennen mochte. Untermieter aufzunehmen, ob Freund, Bekannter oder Fremder, war Gebot der Stunde und Zeichen der Solidarität. Auch wenn die Nazi-Propaganda den Alten Heimunterbringung bzw. den Arbeitsfähigen Siedlungsraum im Osten vorgaukelte, sie alle ahnten, welches Schicksal sie erwartete.
Wie hätte sich in einem solchen Haus unter diesen Umständen ein Gefühl des Miteinander entwickeln können? Ein- und Ausziehen war an der Tagesordnung. Man blieb sich fremd. Es gab Hausbewohner, die eventuell noch über Geldmittel verfügten und hoffen konnten, dass ihrem Antrag auf Ausreise stattgegeben würde. Neid und Missgunst breiteten sich aus. Aber da waren auch die Alten, denen willkürlich und ohne Rücksicht auf Verdienste oder familiäre Bindungen die Zwangsevakuierung in ein “Heim” im Stuttgarter Umland bevorstand. Manchen schien der Freitod die einzige Lösung. Und es gab Eltern, die ihre Kinder ins Ausland, in ein ungewisses Schicksal schickten, um zumindest sie zu retten.
Hier, in der Seestraße 112, hatte die Fabrikantenfamilie Stettiner ihr Zuhause. Käthe Stettiner (Bild) lebte hier seit den 20iger Jahren, ab 1933 als Witwe. Ihre Kinder Eva und Ludwig verbrachten in diesem Hause Kindheit und Jugend. Dem Sohn gelingt im März 1940 die Ausreise nach Palästina. Eva arbeitet als Krankenschwester. Mutter und Tochter bleiben zusammen, erleben all die Demütigungen, das Unrecht und Leid, welches die Nazis den Juden zufügten. 1940 werden sie gezwungen, ihr Haus zu verkaufen, der Erlös geht auf ein “Sicherungskonto” und wird vom NS-Staat eingezogen. Hier, in der Seestraße 112, erhalten sie den Befehl, sich am 1.12.1941 zur Deportation nach dem Osten einzufinden. Ein Zeuge erinnert sich, dass sie im Außenlager Kaiserwald bei Riga erschossen wurden.
Gertrud Lazarus, alleinstehende Musikpädagogin, zieht 1939 aus Frankfurt nach Stuttgart. In ihrer Wohnung in der Seestraße 114 hat sie nur noch selten Gelegenheit, eine Stunde Klavierunterricht zu geben. Kaum jemand der Hausbewohner nimmt die alte Dame wahr. Am 2. März 1942 wird sie in das Altenwohnheim Eschenau zwangsumgesiedelt. Von dort muss sie am 22. August 1942 vom Nordbahnhof Stuttgart aus die Fahrt nach Theresienstadt antreten. Die Lagerliste vermerkt ihren Tod am 13.9.1942, nur drei Wochen später.
Text & Recherche: Jupp Klegraf, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Nord, März 2008
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg und Stadtarchiv Stuttgart.
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg und Stadtarchiv Stuttgart.