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Karl Pflomm, Am Kochenhof 59

Am Dienstag, 12. November 2013, wurde um 10:50 Uhr in Stuttgart-­Nord, Am Kochenhof (früher) 59, von dem Künstler Gunter Demnig ein STOLPERSTEIN zum Gedenken an

Karl Pflomm
Jahrgang 1908
Ermordet in Grafeneck

in den Gehsteig eingelassen.

Es ist eines jener furchtbaren Schicksale aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahr- hunderts, um das es bei dieser STOLPERSTEIN-Verlegung geht. Rein gar nichts erinnert mehr an die menschliche Tragödie, die an diesem Ort ihren Ausgang nahm. Wo einmal ein stattlicher Gebäudekomplex, der Kochenhof, stand, haben vor wenigen Jahren ­ nach dem Abriss des Messe-Parkhauses Rote Wand ­ Gartenarchitekten eine sog. Grüne Fuge gestaltet. Kein Haus, kein Stein erinnern mehr an das, was hier einmal war. Und nahezu kein Erinnern gibt es mehr an den Menschen, der hier, am damaligen Kochenhof 59, einen Teil seiner Kindheit und Jugend verbracht hat. Es gibt ein einziges Foto, aber ansonsten keine handschriftliche Zeile von ihm, nur ein paar düstere Akteneinträge erinnern an diesen Karl Pflomm…

Geboren wurde er am 10. September 1908 in Cannstatt, das wenige Jahre zuvor (am 1. April 1905) mit der Residenzstadt Stuttgart vereinigt, aber (noch) nicht eingemeindet worden war. Cannstatt hatte in den Jahrzehnten zuvor eine stürmische industrielle Entwicklung genommen, insbesondere seitdem Gottlieb Daimler 1886 mit seinem vierrädrigen Motor- fahrzeug über Cannstatts Straßen gebrettert war.

Das Ehepaar Christine und Karl-Friedrich Pflomm hatte neben dem Sohn Karl noch zwei Töchter. Der Vater verdiente das Geld für die Familie als  Malermeister in Cannstatt. Der kleine Karl wurde in der Prag-Volksschule eingeschult, hatte aber wohl von Anfang an ziemliche Lernprobleme. Bereits die 1. Klasse musste er wiederholen, nachdem er an einer Lungenentzündung erkrankt war und längere Zeit in der Schule fehlen musste. Auch in den Folgejahren soll er nach Aussagen seiner Mutter mehrmals an Lungenentzündungen erkrankt sein. Als er mit 15 Jahren die Schule verließ, dürften gesundheitliche Gründe ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass er nicht den Malerberuf des Vaters ergriff, sondern eine Gärtnerlehre in der Friedhofstraße begann. Immerhin konnte er die Lehre abschließen und wurde nach zwei Jahren als Gehilfe übernommen.

Was die Familie PFLOMM zu dieser Zeit, also 1924/25, bewogen hat, von Cannstatt hier in den Kochenhof 59 umzuziehen, bleibt unklar. Der Kochenhof war zu jener Zeit Sitz einer kleinen Brauereigesellschaft, die hier ein Restaurant betrieb. In dem Wohngebäude wohnten die Familien eines Schankwirts, eines Fuhrhalters und eben die des Malers Pflomm.

Sohn Karl verlor allerdings ­ möglicherweise aus gesundheitlichen Gründen ­ schon ein halbes Jahr später seine Arbeit bei der Gärtnerei am Pragfriedhof. Er war zeitweise arbeitslos und arbeitete schließlich gelegentlich auf Baustellen, aber auch als Holzsäger im Schwarzwald. Ab April 1929 verschlechterte sich sein gesundheitlicher Zustand rapide. Er konnte nicht mehr schlafen, verweigerte jegliche Nahrungsaufnahme, lief von zuhause weg und blieb teilweise tagelang unauffindbar. Daraufhin wurde Karl PFLOMM  Anfang Mai 1929, also mit gut 20 Jahren, erstmals im Bürgerhospital hier in Stuttgart aufgenommen. Knapp eine Woche später wurde er zwar wieder nach Hause entlassen, aber mit der niederschmetternden Diagnose Schizophrenie. Offenbar lag eine erbliche Belastung von Seiten der väterlichen Familie vor. Da sich die Symptome immer wieder verschlimmerten, wurde er bereits im Juli 1929 wieder für zwei Wochen im Bürgerhospital aufgenommen. Dies wiederholte sich im Juli des Folgejahres und Anfang Oktober 1930 wurde er schließlich  in die Württembergische Heilanstalt Winnental eingewiesen. Doch sein Zustand verschlechterte sich weiter. Seine Angstzustände nahmen derart zu, dass er sich weigerte zu essen aus Angst, man könnte ihn vergiften. Der 1,72m große, jetzt 22 Jahre alte Karl Pflomm magerte ab auf 58 kg.

Ende August 1932 holten ihn seine Eltern wieder nach Hause. Immerhin wurde sein Zustand bei Entlassung als ,,gebessert” angegeben. Möglicherweise wurde er aber auch ,,angesichts der dauernden Überfüllung der Anstalten” nach Hause abgeschoben. Anfang 1934 fasste der Leiter des Bürgerhospitals den Zustand von Karl Pflomm so zusammen: ,,Es handelt sich bei ihm um eine chronische schizophrene Psychose. Er ist völlig erwerbsunfähig, pflegebedürftig und schutzbedürftig.”

Vermutlich in Ausführung des bereits im Juli 1933 erlassenen ,,Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” wurde Karl Pflomm  im September 1935 im Katharinenhospital sterilisiert.  Anfang März 1937 wurde er wieder in die Anstalt Winnental eingewiesen, wobei erneut seine ,,Arbeitsunfähigkeit auch infolge körperlicher Erkrankung” festgestellt wurde. Es gibt einen Hinweis, dass neben dem Vater als gesetzlichem Vertreter zwischenzeitlich auch eine Pflegschaft eingesetzt worden war, was auf die Schwere seiner Erkrankung hinweisen dürfte.

Dies und die attestierte Arbeitsunfähigkeit deuten vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rassen- und ,,Hygiene”-Politik (Stichwort: ,,gesunder Volkskörper”), aber auch vor dem herannahenden neuen Krieg das weitere, erbarmungswürdige Schicksal von Karl Pflomm bereits an: seine erneute Einweisung in die Anstalt Winnental war scheinbar auf Dauer angelegt, doch  endete sie abrupt am 3. Juni 1940. An jenem Tag fuhren vor der Anstalt mehrere ,,graue Busse” vor, durch deren Fenster man nicht hinein- oder herausschauen konnte. Mit diesen Bussen wurde Karl Pflomm zusammen mit 77 weiteren Patienten abtransportiert. Handschriftlich wurde unter diesem Tag in sein Krankenblatt ,,verlegt” eingetragen und ,,ungeheilt” unterstrichen.

Die Fahrt der ,,grauen Busse” ging in die Nähe von Münsingen, in das ehemalige ,,Krüppelheim Grafeneck”. Dieses frühere Samariterstift war kurz nach Kriegsbeginn ,,für Zwecke des Reichs” beschlagnahmt und innerhalb weniger Monate von den Nationalsozialisten in die erste Vernichtungsanstalt umfunktioniert worden. Hier wurde ab Januar 1940 erstmals im Reich die ,,Aktion T4″ ( benannt nach dem Sitz der steuernden Behörde in Berlin, Tiergartenstraße 4) in eine mörderische Praxis umgesetzt, also die systematische Ermordung von behinderten Menschen aus Krankenanstalten und Heimen. Bis Dezember 1940 wurden in Grafeneck 10.654 Männer, Frauen, Alte, Jugendliche und Kinder umgebracht, Menschen, die die Nationalsozialisten als ,,lebensunwert” eingestuft hatten. Karl Pflomm wurde an diesem 3. Juni 1940 aus der Anstalt Winnental nach Grafeneck in die angebliche Landes-Pflegeanstalt verbracht. Noch am selben Tag wurde er mit anderen ,,ankommenden Kranken …von dem Schwesternpersonal in Empfang genommen, ausgezogen, gemessen, fotografiert, gewogen und dann zur Untersuchung gebracht. Jeder ankommende Transport wurde ohne Rücksicht auf die Tageszeit sofort untersucht und die zur Euthanasie bestimmten wurden sofort vergast.” (zit.: Gedenkstätte Grafeneck, S. 36: ,,Eine Schwester beschreibt das Geschehen bei der Ankunft in Grafeneck”). Karl Pflomm, 37 Jahre alt, starb noch an diesem 3. Juni 1940 im Vergasungsschuppen in Grafeneck. Ermordet im sog. Duschraum mit eingeleitetem Kohlenmonoxid-Gas. Mit ihm starben etwa 70 weitere Personen. Die Toten wurden unmittelbar darauf verbrannt.

Vermutlich dürfte der Vater Pflomm einige Zeit später ein Schreiben der ,,Landes-Pflege- anstalt Grafeneck” erhalten haben, mit dem das ,,Bedauern” über den Tod des Sohns und eine fiktive Todesursache übermittelt wurde, etwa dass der Sohn ,,ganz plötzlich an Lungentuberculose mit anschließendem Blutsturz verstorben” sei (Originalzitat aus dem Schreiben in einem anderen, vergleichbaren Fall). Weiter hieß es: ,,Bei der geistigen, unheilbaren Erkrankung Ihres Sohnes ist der Tod eine Erlösung für ihn und seine Umwelt.”

Ab Mitte 1940 wurden vereinzelte Proteste gegen die längst nicht mehr ,,Geheime Reichssache Grafeneck” laut, und im Dezember 1940 wurde Grafeneck geschlossen. Offensichtlich hatten die Täter der ,,Aktion T4″ ihr Ziel im Südwesten weitgehend erreicht. Allein aus Stuttgart waren in diesem knappen Jahr über 500 Kranke in Grafeneck umgebracht worden. Das Personal wurde zunächst nach Hadamar bei Limburg versetzt, wo die Krankenmorde weitergeführt wurden. Ein großer Teil des Grafeneck-Personals verblieb in den Folgejahren in der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie und brachte später in den Vernichtungslagern Belzec, Treblinka, Sobibor  und Auschwitz seine mörderischen Kenntnisse in die ,,Endlösung der Judenfrage” ein. Insofern steht Grafeneck für den Beginn der systematischen, industriellen Ermordung von Menschen durch das nationalsozialistische Regime.

Text+Recherche: Dr. Helmut Rannacher, Am Kräherwald 75, 70192 Stuttgart, Tel. 25 73 146, Email: helmut-rannacher@web.de (sowie Informationen von Elke Martin)