Seestraße 112 und 114 – das waren einmal stattliche Bürgerhäuser aus den ersten Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Seit 1918 bewohnte der Fabrikant Leo Mayer zusammen mit seiner Schwester Kornelia Mayer– geb. 23.5.1879 – zwei Etagen des Hauses Seestraße 114. Er war Inhaber einer Firma in Feuerbach, deren Gesellschafter alle – wie auch er selbst – Juden waren. Nach seinem Tod im Jahr 1930 trat eines seiner fünf Kinder, die Tochter Lucie Mayer– geb. 9.11.1899 – als Kommanditistin in die Firma ein. Im folgenden Jahr zog diese zusammen mit ihrer ebenfalls unverheirateten Tante Kornelia in das benachbarte Haus Seestraße 112 um und bewohnte dort bis 1939 eine hochmoderne und – wie es hieß – vornehm eingerichtete 10-Zimmer-Wohnung.
Im Spätjahr 1938 wurde die Firma Leo Mayer in Feuerbach im Rahmen der “Zwangsarisierung” liquidiert, das Firmengelände Ende 1938 für 260.000 RM an die Firma Bosch verkauft. Schon kurze Zeit danach wurden Kornelia und Lucie Mayer gezwungen, ihre Wohnung hier in der Seestraße aufzugeben und in eine 3-Zimmer-Wohnung in der Rosenbergstraße 105 umzuziehen, eine Adresse, unter der in der Folgezeit immer mehr jüdische Bürger zusammengepfercht wurden. Große Teile der Wohnungseinrichtung wurden verschleudert, insbesondere als sie sich nach einiger Zeit mit einem Einzelzimmer begnügen mussten.
Ab dem 19. September 1941 mussten Lucie und Kornelia Mayer – wie all die anderen Bewohner der Rosenbergstraße 105 – den so genannten Judenstern tragen. Gut vier Wochen später, am 24. Oktober 1941, wurden beide Damen im Wege der “Landaussiedlung” der Juden zwangsweise in das Jüdische Altersheim Schloss Weißenstein bei Süssen umgesiedelt. Sie durften nur das “Allernotwendigste” mitnehmen, der in Stuttgart verbliebene Rest der Wohnungseinrichtung, des Hausrats und der Kleidung wurde auf Weisung der Gestapo vom Altwarenhändler verkauft.
Ein halbes Jahr später, am 26. April 1942, wurden Lucie und Kornelia Mayer, die eine 42, die andere knapp 63 Jahre alt, zusammen mit Hunderten anderer jüdischer Bürger aus der Region in das jüdische Ghetto Izbica südöstlich von Lublin/Polen deportiert. Dort verliert sich ihre Spur. Das Lager Izbica war ab 1942 Durchgangsstation deportierter Juden in die Vernichtungslager des Holocaust, insbesondere nach Belzec und Sobibor. Hier dürfte der Leidensweg von Lucie und Kornelia Mayer aus der Seestraße sein Ende gefunden haben.
Text & Recherche: Dr. Helmut Rannacher, Initiative S-Nord, März 2008
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg und Stadtarchiv Stuttgart.