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Ludwig Weißburger, Lerchenstr. 28

„Sich erinnern heißt wachsam bleiben“
Mahnung auf dem Gedenkstein, der in Bietigheim-Bissingen für Wilhelm Weißburger erreichtet wurde, seinem in Auschwitz ermordeten Bruder


Wenn man von einem Menschen sagen darf, dass sein Leben unter einem schlechten Stern stand, so trifft dies sicherlich für Ludwig Weißburger zu, der am 28. Januar 1905 in Kochendorf geboren wurde.

Sein Vater Herrmann (geb. 1850) war Handelsmann. In erster Ehe war er seit 1879 mit Fanny, geb. Kaufmann, verheiratet. Sie hatten acht Kinder, von denen ein Sohn bereits früh verstarb. An ihrem 43. Geburtstag, am 10. April 1896, starb Fanny Weißburger. Ihre Kinder waren damals zwischen vier und 15 Jahre alt. Nach drei Jahren heiratete Hermann Weißburger am 14. August 1899 erneut: Rosa, geb. Heckscher (geb. 1861), aus Wallerstein bekam fünf Kinder von denen der 1905 geborene Ludwig das jüngste war. Doch auch diese Ehe fand ein frühes Ende: Ludwig war gerade zwei Jahre alt, als seine Mutter am 5. April 1907 in Kochendorf verstarb. Fast genau ein Jahr später, am 3. April 1908, starb auch der Vater in Heilbronn.

Ludwig Weißburger wurde vorerst von einem Onkel aufgenommen Im Alter von sechs Jahren kam er im April 1911 in das Israelitische Waisenhaus nach Esslingen, wo er die Schule besuchte und wohnte, während er eine Schneiderlehre machte. Er hat sich im Israelitischen Waisenhaus sehr wohl gefühlt, wie er später sagte.

Schon früh war es um seine Gesundheit schlecht bestellt: Mit neun Jahren erkrankte er an einer Gaumensegellähmung, mit elf schwer an Scharlach und litt unter mehreren Nachkrankheiten. Dann stürzte er wohl aus einem Kinderkarussell und soll zeitweise Lähmungserscheinungen gezeigt haben. Vor allem aber hatte er spätestens seit dem 13. Lebensjahr epileptische Anfälle.

Im August 1924 verließ Ludwig Weißburger das Waisenhaus nachdem er seine Prüfung als Schneidergeselle bestanden hatte. Den Gesellenbrief verbrannte er sofort, weil er so schlecht war. Trotzdem ging er auf Wanderschaft und arbeitete dabei zeitweise in Horkheim, heute ein Stadtteil von Heilbronn. Fast täglich litt er nun unter epileptischen Anfällen und wurde deshalb an Weihnachten 1924 in die Nervenklinik der Universität Heidelberg eingewiesen. Da er dort keine Anfälle zeigte, wurde er nach einem Monat wieder entlassen. Ludwig Weißburger zog nun zur Familie seines Vetters, Wilhelm Weißburger, in Stuttgart, der in der Lerchenstraße 28 wohnte.

Wilhelm Weißburger hatte eine Ofen- und Herdhandlung in der Gartenstraße 48, der heutigen Fritz-Elsas-Straße, und war an der Firma L. G. Hainlin Nachf., Eisenwarenhandlung, in der Neckarstraße 44 beteiligt. Ludwig Weißburger arbeitete für seinen Vetter, der nun sein Vormund wurde, als Packer und Hilfsarbeiter.

Wegen seiner epileptischen Anfälle war Ludwig Weißburger von März bis Juni 1927 im Bürgerhospital. Zwar fand er danach Arbeit, u.a. bei Daimler, doch verlor er diese nach einem Anfall sofort wieder, da die Firmen die Aufregung für die Mitarbeiter und die Unfallgefahr für zu groß ansahen. Ende August 1927 suchte Ludwig Weißburger selbst wieder im Bürgerhospital Hilfe. Da seine Situation Depressionen ausgelöst hatte, kam er Mitte September 1927 in die Heilanstalt Stetten, wo er auch Arbeiten als Hilfspfleger übernehmen konnte.

Ludwig Weißburger berichtete später von mehreren Vorfällen, die sich dort zugetragen haben sollen, etwa dass ein Pfleger einen Patienten, der am Tag darauf starb, mit einem Bettbrett schlug. Eine Untersuchung blieb wohl ergebnislos. Weißburger kam nun auf eine andere Station, beteiligte sich an Garten- und Hausarbeiten, arbeitete dann wieder in einer Krankenabteilung.

Als sich dort ein Patient aus dem Medikamentenschrank Betäubungsmittel holte und daran starb, übte Weißburger wieder Kritik, weil der Schrank im Gang stand und jeder wusste, dass die Pfleger den Schlüssel der Einfachheit halber einfach darauf legten. Und als ein Patient mit zwanghafter Badesucht sich heimlich ins Badezimmer schlich und dort in einer Wanne ertrunken aufgefunden wurde, kritisierte er, dass sich kein Pfleger auf der Station befunden hätte. Das Klima zu den Pflegern der Anstalt wurde dadurch so schlecht, dass Weißburger im Dezember 1930 die Anstalt Stetten auf eigene Entscheidung verließ und sich dann wieder im Bürgerhospital meldete. In Stetten stellte man zwar die von Weißburger im Bürgerhospital angesprochenen Todesfälle nicht in Abrede, bezeichnete seine Angaben dazu aber als verleumderisch und falsch. Eines stimmt jedoch: Im Stettener Jahresbericht von 1930 ist nachzulesen, dass nach einer Überprüfung der Anstalt festgelegt wurde, dass die Schlüssel zum Medikamentenschrank stets im Besitz der Pfleger sein müssen.

Die Ärzte im Bürgerhospital hielten jetzt eine Einweisung in eine geschlossene Anstalt für nötig. Begründet wurde dies mit seiner Epilepsie, seinen Verstimmungszuständen und der Gefahr der “Verwahrlosung”, vor allem aber zum eigenen Schutz wegen Fluchtgefahr. So kam Ludwig Weißburger im Februar 1931 in die “Pflege- und Bewahranstalt Pfingstweide” Tettnang.

Die Pfingstweide, von der Basler Mission gegründet, war seit den 1860er Jahren Deutschlands einzige Heil- und Pflegeanstalt für Epileptiker. Heute ist die “Diakonie Pfingstweid e.V.” ein selbständiger Verein unter dem Dachverband des Diakonischen Werks Württemberg. Sie sorgt für Menschen mit geistigen und körperlichen Einschränkungen am Bodensee.

Ludwig Weißburger hat sich in der Pfingstweide anscheinend wohlgefühlt, trotz mancher kleinen Probleme. Einmal im Jahr erhielt er Besuch vom Rabbiner aus Buchau am Federsee, dem heutigen Bad Buchau, dessen jüdische Gemeinde am nächsten zur Pfingstweide lag. Und immer wieder bekam er die Möglichkeit, Urlaub zu machen. Im Herbst 1931 etwa verbrachte er das jüdische Neujahrsfest in Buchau. In den ersten Jahren in der Pfingstweide hatte Ludwig Weißburger noch zahlreiche epileptische Anfälle erlitten, seit 1938 war er ohne Anfälle.

Das nationalsozialistische Regime veränderte auch das Leben von Ludwig Weißburger. Nach der Zerstörung der Synagoge von Buchau im November 1938 wanderte der Rabbiner aus. Stattdessen besuchte ihn zeitweise noch der jüdische Lehrer aus Buchau als Rabbinatsverweser. Und auf Anordnung des NS-Erbgesundheitsgerichts Ravensburg wurde Ludwig Weißburger im Juni 1940 als “erbkrank” zwangsweise sterilisiert.

Am 25. September 1940 beantragte “Hausvater” Georg Geckeler, der Leiter der Pfingstweide, beim Württembergischen Innenministerium die Entlassung von Ludwig Weißburger, der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt voll einsatzfähig sei. Durch die Unfruchtbarmachung, so begründete er es weiter, würde der Entlassung nichts mehr im Wege stehen.

Entscheidend war in diesem Zusammenhang, dass das Städtische Wohlfahrtsamt Stuttgart im Januar 1941 bemerkte, dass Weißburger Jude ist. Es stellte deshalb seine Fürsorgezahlungen rückwirkend zum 30. September 1940 ein und verwies auf die Fürsorge der jüdischen Kultusvereinigung in der Hospitalstraße 36. Doch dieser fehlte das Geld, weshalb der Vorschlag gemacht wurde, ihn ab Anfang Marz in das Jüdische Umschulungslager Schönfelde Fūrstenwalde Spree einzuweisen. Ludwig Weißburger wollte lieber wieder nach Stuttgart, wo er sich auskannte und daher auch besser aufgehoben fühlte, obwohl seine Verwandten Stuttgart längst verlassen hatte. Die Kultusvereinigung konnte ihm Arbeit bei dem Baugeschäft Mutschler in der Rosenbergstraße 109 vermitteln und ein Zimmer in der Breitscheidstraße 35 bei Otto Bamberger (deportiert 1.12.1941 nach Riga). Mit Genehmigung des Württembergischen Innenministerium konnte Ludwig Weißburger Anfang April 1941 die Pfingstweide verlassen.

Das letzte bekannte eigenhändige Lebenszeichen von Ludwig Weißburger ist ein Brief, den er am 18 Mai 1941 an Hausvater Georg Geckeler von der Pfingstweide geschrieben hat. Zwei Tage zuvor hatte er in die Kernerstraße 11 umziehen müssen, wo er ein “schönes Zimmer” bei der Witwe Babette Rosenberger bekam. “Die Leute sind anständig und entgegenkommend. Mein Meister hat mir ein kleines Auto zur Verfügung gestellt, holte mich [zum Umzug] morgens um ¾ 7 Uhr ab, und war um 8 Uhr schon wieder im Geschäft, das Ganze kostete mich nichts, er ist sehr entgegenkommend, nur die Arbeit ist sehr streng, aber man macht es gern, wenn die Menschen nett sind.“

Der nächste Hinweis zum Schicksal von Ludwig Weißburger ist eine Karteikarte aus dem Konzentrationslager Dachau Nach dieser wurde er am 1. August 1944 vom Konzentrationslager Kowno (Kauen Kaunas) in Litauen nach Dachau verbracht. Das KZ Kowno war im Juli aufgelöst worden, da die russische Armee immer nähergekommen war. Wie und wann Ludwig Weißburger dorthin kam, ist nicht zu klären. Weil das KZ Riga überfüllt war, wurden Deportationszüge beispielsweise aus Berlin, Hamburg und München direkt in das KZ Kowno geleitet. Doch der Name Ludwig Weißburger ist auf keiner der bekannten Deportationslisten nach Kowno oder Riga zu finden. Möglicherweise – aber das ist eine reine Vermutung – wurde er kurzfristig als Ersatzmann, der deshalb nicht auf der Liste genannt wurde, bereits am 1. Dezember 1941 von Stuttgart nach Riga deportiert. In Stuttgart jedenfalls lässt er sich nicht mehr nachweisen. Als letzte Wohnadresse heißt es auf der Karte “Stuttgart, Märchenstraße 28”, was auf einen Hörfehler hinweist, denn diese gab es nie, nur eben die Lerchenstraße 28.

Ludwig Weißburger fand am 16. Februar 1945 im Dachauer Außenlager Kaufering IV bei Hurlach den Tod. In den Außenlagern Kaufering musste für den unterirdischen Bau einer geheimen Waffenfabrikationsanlage Schwerstarbeit geleistet werden. Wegen der menschenunwürdigen Unterbringung, aufgrund von Hunger, Kälte und Typhus, der Ausbeutung der Arbeitskraft bis zur Vernichtung, bezeichneten die Häftlinge die Lager von Kaufering als “kalte Krematorien”, denn zur Ermordung wurden hier keine Gaskammern oder Erschießungskommandos eingesetzt, sondern mörderische Arbeit. Einige Opfer des Lagers IV Hurlach – Ludwig Weißburger dürfte nicht darunter sein – wurden in einem Sammelgrab auf dem KZ-Friedhof begraben. Auf dem Gedenkstein heißt es unter anderem:

Ihr zoget durch ein
Meer von Leid …
Nun ruht
in Gott und Ewigkeit

Der Stolperstein wurde am 27. Oktober 2016 verlegt.

Recherche und Text: Wolfgang Kress, Stolpersteine-Initiative Stuttgart-West

Quellen: Stadtarchiv Stuttgart, Bürgerhospital; Archiv der Diakonie Pfingstweid, Tettnang; Landesarchiv Ludwigsburg, Wiedergutmachungsakten.
Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Fritz Mäser von der Diakone Pfingstweid in Tettnang. [Bemerkung: Das „e“ der Pfingstweide entfällt erst in Tettnang].