Verlegung am 01.07.2016 um 10:50 Uhr in Heilmannstrasse 15 (früher Retraitstr. 15) für
Luise Nesia Weinstein, geb. Nechtschin
geb. am 29. Mai 1878 in Cherson, Russland
deportiert am 22. August 1942, Theresienstadt
ermordet am 26. September 1942, Treblinka
Israel Weinstein
geb. am 20. August 1871 in Cherson, Russland
deportiert am 22. August 1942, Theresienstadt
ermordet 26. September 1942, Treblinka
Die Geschichte der Familie Weinstein zeigt besonders anschaulich, was die Verfolgung durch Nazis für Eltern und Kinder bedeutet: Leid und Tod, selbst im günstigen Fall ein elendes Davonkommen, immer aber das Zerreißen von Beziehungen, der Verlust von Nähe, oft für immer.
Nesia und Israel Weinstein, beide in den 1870er Jahren in Russland geboren, heiraten in Odessa. Dort bekommen sie auch ihre ersten drei Töchter, Lydia 1899, Claire 1902 und Olga 1905. Noch im selben Jahr wandert die junge Familie nach Deutschland aus. Die Geburtsorte der folgenden Kinder markieren die Suche der Weinsteins nach einer Heimat im fremden Land. Ihr erster Sohn David erblickt das Licht der Welt 1908 in Linz am Rhein, seine Schwester Paula zwei Jahre darauf in Lübeck, ebenso wie ein weiteres Jahr später die kleine Fanny. 1913 lassen sich die Weinsteins in Stuttgart nieder. Hier kommt 1914 Siegfried zur Welt, ein Jahr danach Helmut und schließlich als neuntes und letztes Kind im Jahr 1919 Julius Kurt. Dieser flieht später als Zwanzigjähriger nach England und nennt sich fortan Kurt Winton. 75 Jahre später macht sich sein Sohn, Eric Winton, in seiner Heimatstadt Sydney daran, die Gedenksteine vorzubereiten, die wir heute hier verlegen. Eric und seine Familie wären jetzt gerne hier, aber die Reise von Australien ist anstrengend und kostspielig. Deshalb bleibt es im Moment bei Grüßen nach Sydney – und der Gewissheit, dass von nun an öffentlich an das Schicksal der Familie Weinstein erinnert wird.
Erics Großvater Israel Weinstein war Tabakschneider und als solcher offenbar ein tüchtiger Mann. Als Werkmeister hatte er leitende Stellungen inne, in Stuttgart unter anderem bei der Firma „NAFI-NAFI“ in der Hackstraße und der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, Hackstr. 11. Auch seiner zweitgeborenen Tochter Claire gelingt eine ansehnliche Karriere. Nach dem Tod ihres ersten Ehemannes kommt sie Anfang der 30er Jahre hierher in die Heilmannstraße – damals Retraitstrasse -und eröffnet in der elterlichen Wohnung eine Schneiderei. Sie bringt es zu großer Bekanntheit in gutbürgerlichen Kreisen der Landeshauptstadt, betreibt 1938 eine Werkstatt für Maß-Mode mit zwei An-gestellten. Dann kommt die Verschärfung der Rassenpolitik. Claire wird im Herbst 1938 nach Polen abgeschoben, haust dort in einem Lager. Sie schafft es, ihre Flucht zu organisieren, kommt noch einmal kurz nach Stuttgart zurück und emigriert im Sommer 1939 nach England. Dort darf die vormals erfolgreiche Unternehmerin gerade noch als Haushaltshilfe arbeiten. Nach Kriegsende wandert sie in die USA aus und bleibt dort.
In Deutschland ergeht es Claires Geschwistern ähnlich. Alle müssen Ausbildungen und Berufstätigkeiten abbrechen. Wo immer sie Zuflucht finden, geht es ihnen weit schlechter als zuvor, nur niederste Arbeiten sind den ungeliebten Flüchtlingen erlaubt.
Paula, die kaufmännische Angestellte ist und im renommierten Kaufhaus Schocken beschäftigt war, darf nur noch Hilfsarbeiten verrichten. Als sie 1939 nach England flieht, ist sie dort Dienstmädchen.
Julius Kurt wird in Stuttgart das Architektur-Studium verwehrt, obwohl er beim Architekten Oskar Bloch in der Calwer Straße die Lehre als „Baumeister-Praktikant“ absolviert hat. 1939 flieht er alleine, ohne Geld und ohne Fremd-sprachkenntnis nach England. Dort malocht er in Industrie und Landwirtschaft, schlägt sich später in Neuseeland als Verkäufer durch.
Seinem älteren Bruder Siegfried ergeht es noch schlimmer. Der gelernte Tuch-händler und Buchhalter wird nach der Pogromnacht das 9. November 1938 ins KZ Dachau verschleppt, Häftlingsnummer 25006. Als er Monate später entlassen wird, gibt es nur noch Hilfsarbeit für ihn. Er schafft 1939 die Flucht nach England, arbeitet dort ohne Bezahlung, nur für Kost und Logis, in der Landwirtschaft. Als der Krieg beginnt, wird er als „Feindlicher Ausländer“ für eineinhalb Jahre in einem Internierungslager festgehalten.
Währenddessen wird die Lage für die Eltern Weinstein immer schlechter. Anfang der 40er Jahre müssen sie ihre Wohnung verlassen und werden in eines der völlig überbelegten „Judenhäuser“ gepfercht, in der Urbanstraße 116. Von dort werden sie nach Haigerloch deportiert. Die Behörden nennen das „Landumsiedlung“. Hinter dem idyllischen Begriff verbirgt sich die totale Enteignung. Die Gestapo verkauft ihren gesamten Besitz und zieht den Erlös ein, „zugunsten des Reiches“. Aus Haigerloch ist das letzte Lebenszeichen der beiden erhalten, eine vom Roten Kreuz transportierte Post an die Kinder in Stuttgart.
Am 23. August 1942 schickt die Gestapo Nesia und Israel Weinstein mit dem Transport „XIII/1“ von Haigerloch nach Theresienstadt. Vier Wochen später, am 26. September 1942, werden Nesia und Israel Weinstein mit dem Transport „Br 1109“ nach Treblinka gebracht und dort ermordet. Sie wurden 66 und 71 Jahre alt.
Nach dem Krieg versuchen ihre Kinder, im Rahmen der so genannten „Wiedergutmachung“ Entschädigungen von der Bundesrepublik zu erwirken. Die Ergeb-nisse sind spärlich, aber penibel begründet – in den Amtsstuben sitzen meist dieselben Beamten, die vorher dem Nazi-Regime gedient haben. Olga Weinstein erhält in den 50er Jahren von den deutschen Behörden folgenden Bescheid: „Der Entschädigungszeitraum endet am 31.12.1947. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist die Antragstellerin durch die Einkünfte ihres Ehemannes in Verhältnisse gelangt, in denen in ihrem örtlichen Lebensbereich eine Ehefrau beruflicher Tätigkeit nicht mehr nachgeht.“
Lydia und Fanny überleben in Argentinien; Claire, Olga, David und Paula in den USA; Siegfried in Großbritannien; Helmut in Palästina und Julius Kurt in Neuseeland. Nachdem sie aus der deutschen Heimat vertrieben wurden, kam die Geschwisterrunde nie mehr zusammen.
Recherche: Jennifer Lauxmann-Stöhr
Text: Andreas Langen