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Luise Siegle, Möhringer Str. 30

Luise Siegle wurde am 26. Mai 1894 in Stendal, Sachsen-Anhalt, geboren. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Das Mädchen wuchs mit mehreren Stiefgeschwistern auf. In den überlieferten Patientenakten wird sie auch mit dem Namen Luise Müller geführt, denn ihr Stiefvater Karl August Müller sowie ihre mit ihm verheiratete Mutter Luise Augusta, geborene Siegle, trugen diesen Namen. Die Familie wohnte in Stuttgart-Süd in der Möhringer Straße 30.

Als Kind war die kleine Luise schwächlich, hatte Diphterie und andere Kinderkrankheiten durchgemacht. In der Schule hatte sie sehr gut gelernt. Es war ein ernstes, ruhiges Kind, das gerne mit anderen Kindern zusammen war. Nach der Schule erlernte sie den Beruf einer Näherin. Die junge Frau war nur 1,55 Meter groß und wog knapp 47 kg. In den frühen zwanziger Jahren trat Luise Siegle der Neuapostolischen Kirche bei. (In den Kirchenbüchern der zuständigen Gemeinde Stuttgart-Süd ist sie nicht verzeichnet.)

Wohl seit ihrem 25. Lebensjahr hatte sie „Anfälle“, bei denen sie umfiel und denen jeweils Kopfschmerzen vorausgingen. Danach fühlte sie sich matt und elend. Luise Siegle konnte bis Anfang 1933 arbeiten. Nachdem sie im September 1933 planlos in der Stadt herumgelaufen war, wurde sie von der Polizei aufgegriffen und ins Bürgerhospital verbracht. Es wurde Schizophrenie mit epileptischen Anfällen diagnostiziert. Dort wurde sie immer unruhiger, hatte Halluzinationen und Ängste. Nachdem eine Heilung als zweifelhaft eingestuft wurde, wurde die junge Frau am 9. Oktober 1933 nach Weissenau im heutigen Landkreis Ravensburg eingewiesen. Hier verstärkten sich ihre Unruhe und Ängste; eine Unterhaltung war kaum mehr möglich. Dazwischen gab es immer wieder Phasen, in denen es ihr besser ging, sie ruhiger wurde und Handarbeiten verrichtete. Im November 1933 schrieb sie einen Brief an Apostel Georg Schall (1886–1966). Der Brief war ein Hilferuf sowie ein Ausdruck ihrer großen Ängste und zeugt von den Halluzinationen, unter denen sie litt. Sie sah sich in ihrer Eigenwahrnehmung als große Sünderin. In ihrer Krankenakte wird berichtet, dass sie sich immer wieder an Pflegerinnen und Ärzten festhielt.

Der letzte Satz in ihrer Patientenakte stammt vom 1. August 1940. Er lautet „Schafft gar nichts, spricht kein vernünftiges Wort.“ Es war zugleich der Tag, an dem sie im Rahmen der „Aktion T4“ nach Grafeneck verbracht und noch am gleichen Tag im Alter von 46 Jahren ermordet wurde.

Der Name „Aktion T 4“ basiert auf einer Ende 1939 in Berlin errichteten geheimen Organisation. Ihre Adresse war die Tiergartenstraße 4, daher der Begriff „T 4“. Hier wurde anhand der Patientenakten bis August 1941 über Leben und Tod entschieden. Zwischen 1939 und 1945 wurden ca. 200.000 Frauen, Männer und Kinder aus psychiatrischen Einrichtungen des Deutschen Reichs in mehreren verdeckten Aktionen ermordet. Allein aus Weissenau wurden 1940 und 1941 691 Patienten mit Bussen nach Grafeneck deportiert und ermordet.

Am 4. März 2022 wurde für Luise Siegle ein Stolperstein verlegt.

Recherche und Text: Dr. Karl-Peter Krauss

Quellen:
Bundesarchiv Berlin Lichterfelde, R 179 Bü 24684 (unter dem Namen Luise Müller)
Staatsarchiv Ludwigsburg, Patientenblätter, F 235 III Bü 810