Mathilde Justitz (*14. Februar 1882 in Stuttgart) und Rudolf Justitz (* 29. Mai 1877 in Wien) waren Geschwister. Zusammen mit ihren Brüdern Otto (* 1880 in Wien) und Julius (*1890 in Stuttgart) führten sie das vom Vater gegründete Juweliergeschäft in der Rotebühlstr. 35.
Vater Wilhelm Justitz (*1846) stammte wohl aus dem Böhmischen, denn zwei seiner Kinder hatten in den 30er Jahren einen tschechischen Pass. Zusammen mit seiner Frau Sibylle (*1848) lebte er in Wien und ab 1881 in Stuttgart. Die finanziellen Verhältnisse der Familie dürften anfangs bescheiden gewesen sein, doch mit Fleiß und Redlichkeit schaffte man es vom dritten Stock des Hauses Becherstr. 5, einer kleinen nicht mehr existierenden Straße bei der Markthalle, um 1900 in den 1. Stock der Silberburgstr. 119. Das Adressbuch von 1882, das den Namen Justitz erstmals aufführt, bezeichnet Wilhelm Justitz als “Handelsmann”. Später wird er “Trödelhändler und Kommissionär” bzw. “Vorkäufer” genannt. Vermutlich vermittelte er auch Schmuckwaren.
Im Frühjahr 1905 war es dann soweit: Rudolf Justitz, der als Juwelier und Goldarbeiter ausgebildet worden war, hatte die nötige Berufserfahrung gesammelt, so dass der Vater im Erdgeschoß des Hauses Herzogstr. 11 ein “Juwelengeschäft” eröffnen konnte. Die Wohnung war im Stockwerk darüber. Der Vater übernahm hauptsächlich die kaufmännische Seite des Geschäfts, während der Sohn für die praktischen Goldarbeiten zuständig war. Vor allem für das Umarbeiten von Schmuck scheint Rudolf Justitz eine sichere Hand besessen zu haben. Auch Schwester Mathilde und Bruder Otto arbeiteten bald in dem Juweliergeschäft, das im Herbst 1907 in die Rotebühlstr. 35 verlegt wurde.
“Gelegenheitskauf. Brillant- u. Perlen-Ringe, Boutons, Anhänger, Broschen, Nadeln sehr preiswert. Aelterer Schmuck wird modern umgearbeitet, repariert oder in Zahlung genommen.” Diese Anzeige erschien am 6. Dezember 1910 im Stuttgarter Neuen Tagblatt. Am gleichen Tag verstarb Wilhelm Justitz im 65. Lebensjahr. Seine letzte Ruhe fand er auf dem Israelitischen Teil des Pragfriedhofs, wo 1920 auch seine Frau Sibylle beerdigt wurde. Der Tod des Vaters scheint das Geschäft belastet zu haben, denn die im Tagblatt am 13. Dezember 1910 veröffentlichte Danksagung für die “liebevolle Teilnahme” wies ausdrücklich darauf hin, dass es in unveränderter Weise als “Spezial-Geschäft für Gelegenheitskäufe in Brillanten, Perlen, Gold- und Silberwaren” weitergeführt wurde.
Die Geschwister übernahmen das Geschäft nun allein. Rudolf hatte die technische Leitung. Otto, ebenfalls als Juwelier ausgebildet, hatte die kaufmännische Leitung und den Verkauf. Mathilde, die schon nach der Schule im Geschäft mitgearbeitet hatte, war für Verkauf, Lagerhaltung und Schaufensterpflege zuständig. Auch Julius, der jüngste Bruder, trat nun in das Geschäft ein. Nach einer kaufmännischen Ausbildung und einen Volontariat bei einer Goldwarenfabrik erhielt er von seinen beiden älteren Brüdern eine praktische Ausbildung, um schließlich den Antiquitäten- und Aktionseinkauf zu übernehmen.
Das Juweliergeschäft der Familie Justitz lief gut, die Familie war beliebt. Noch am 17. März 1933 deutete eine Anzeige im Tagblatt “Ankauf Brillanten, Gold, Silber, Rudolf u. Otto Justitz” auf einen regulären Geschäftverlauf hin. Doch das änderte sich schnell. Am Samstag, dem 1. April 1933, begann der staatlich organisierte Judenboykott. Die Scheiben des Juweliergeschäfts wurden beschmiert. Schlimmer noch war, dass sich immer weniger Kunden in das Geschäft trauten.
Während Otto mit seiner Frau Marie (*1896), geborene Wertheimer, und den beiden Kindern Mathilde Sibylle (*1921), genannt Hilde, und Wilhelm Robert (*1922) in Degerloch wohnte, lebten Mathilde, Julius und Rudolf in einer Erdgeschosswohnung in der Reinsburgstr. 91. 1934 zogen sie in den zweiten Stock des Hauses Reinsburgstr. 104. Dort schreckte sie am frühen Morgen des Donnerstags, dem 10. November 1938, ein Anruf auf: Eine johlende Menge hatte das Geschäft umringt, die Fensterscheiben waren in Trümmern und mit Goldwaren vermischte Scherben lagen auf der Straße.
Eilends machte man sich auf den Weg hinunter in die Stadt. Schon einen Block entfernt in der Paulinenstraße lagen in der Straßenkandel leere Etuis mit dem Schriftzug der Firma. Am Geschäft waren die schweren Eisendeckel als Schutz der Fenster mit Gewalt aufgebrochen, Schaufenster und Schaukästen demoliert und Teile der Auslage auf der Straße verstreut. Der Schaden am Gebäude war 500 Reichsmark. Der Schaden an Waren aber betrug 2000 Reichsmark, denn vieles waren gestohlen worden. Eigentlich wäre dies ein Fall für die Versicherung gewesen, doch ein Telefonanruf der Gestapo nötigte die Geschwister dazu, ihre Ansprüche abzutreten. Darüber hinaus wurde Otto am nächsten Morgen von der Gestapo abgeholt und in das KZ Dachau gebracht. Erst kurz vor Weihnachten konnte er wieder nach Hause, mit Frostwunden an Händen, Ohren und Füßen. Auch Julius hätte verhaftet werden sollen, doch sein tschechischer Pass schützte ihn – noch.
Im Zuge der “Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben” mussten die Geschwister Justitz nun ihre Waren zur Übergabe bereithalten. Der Wert der Gegenstände wurde von einem Sachverständigen geschätzt, wobei nur der reine Materialwert zählte. Weil man die festgestellten Preise als zu hoch empfand, wurde die Endsumme kurzerhand um ein Drittel reduziert. Der auf ein Sperrkonto eingezahlte Betrag reichte schließlich gerade für die “staatliche Judenabgabe”, welche die Familie zu zahlen hatte. Ende 1938 wurde das Juweliergeschäft geschlossen.
Die Geschwister wollten zwar in die USA auswandern, ein entfernter Verwandter hatte die Bürgschaft übernommen, doch die Antragszahlen auf der Warteliste waren zu hoch. Als am 15. März 1939 deutsche Truppen in die Tschechoslowakei einmarschierten, floh Julius, der Jüngste, nach Belgien, denn sein tschechischer Pass bot nun keinen Schutz mehr. Nach einer Odyssee über Frankreich, Marokko, die Antillen und Venezuela erreichte er die USA und überlebte.
Mathilde und Rudolf sowie Otto Justitz und seine Familie mussten schließlich ihre Wohnungen verlassen und 1940 in das der Familie gehörende Haus Alte Weinsteige 79 umziehen. Ende November 1941 beschlagnahmte das Deutsche Reich ihren gesamten Besitz: Mathilde, Rudolf, Otto, dessen Frau Marie sowie die Kinder Mathilde Sibylle, genannt Hilde, und Wilhelm Robert hatten sich im Sammellager auf dem Killesberg einzufinden, von wo sie am 1. Dezember 1941 zum Nordbahnhof gebracht, nach Riga deportiert und dann ermordet wurden. 1948 wurden sie auf den 26. März 1942 für tot erklärt.
Seit September 2005 erinnern in Degerloch Stolpersteine an Otto Justitz und seine Familie. Nun wurde auch an Mathilde Justitz und ihren Bruder Rudolf Justitz mit Stolpersteinen gedacht. Im Nationalsozialismus hat man ihnen Hab und Gut geraubt, das Gesicht – denn alle Fotografien gingen verloren – und am Ende auch noch das Leben. Ihre Namen und ihre Geschichte werden aber mit den beiden Stolpersteinen vor dem Haus Reinsburgstr. 104 weiterleben.
Die Patenschaft für die beiden Stolpersteine hat der Handels- und Gewerbeverein Stuttgart/Stadt übernommen.
Die Announce stammt vom 17. März 1933, erschienen im Neuen Tagblatt Stuttgart.
Autor: Wolfgang Kress, Initiative Stuttgart West/ Oktober 2007
Quellen:
Akten aus dem Staatsarchiv Ludwigsburg und dem Stadtarchiv Stuttgart
Adressbücher der Landeshauptstadt Stuttgart 1881ff.
Maria Zelzer, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden.
Doris Neu, Die Ermordung der Degerlocher Familie Justitz, in ?Stuttgarter Stolpersteine – Spuren vergessener Nachbarn?, S. 118 ff.