Max Helfer – der Fußball-Freund mit dem falschen Pass
Es ist Sonntagnachmittag. Max Helfer hat die Hängematte zwischen zwei Bäume im Wald zwischen Stuttgart und Esslingen gehängt. Seine Frau Pauline hat eine Decke auf den Boden gelegt und das Picknick ausgepackt. Daneben spielen die 6 1/2 und fünf Jahre alten Töchter Ingeborg und Sigrid. Plötzlich sieht Sigrid eine Pistole auf sich gerichtet. Die Mutter springt auf, rennt auf ihren Mann zu und verhindert eine Verzweiflungstat. Max Helfer hatte keinen anderen Auswege gesehen, um dem Terror der Nazis zu entgehen. So erinnert sich Sigrid Warscher, eine der beiden Töchter an das Jahr 1937. Es könnte auch ein Alptraum gewesen sein, eine Vorahnung auf das, was kommen wird. Fünf Jahre später ist ihr Vater tot.
Als Max Helfer in die österreichische Armee eingezogen wird, erklärt der gläubige Jude, dass er keine Waffe in die Hand nehmen will. Er kommt zu den Sanitätern. Helfer stammt aus der Gegend von Kattowicz aus dem kleinen Ort Czudec, das zum österreichisch-ungarischen Kaiserreich gehört. Mit den Versailler Verträgen wird der Czudec Polen zugeschlagen und so werden aus Österreichern Polen.
Max Helfer wandert nach der Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft nach Deutschland aus und lässt sich in Stuttgart-Obertürkheim nieder, wo er sich schnell integriert und 1926 Pauline Wilhelmine Vatter aus Stuttgart-Ostheim heiratet. Zusammen mit seinem Bruder Sigmund baut er eine kleine Kaufhaus-Kette auf, die ihren Ursprung in der Augsburger Straße 652 in Obertürkheim hat. Eine Filiale wurde 1930 in der Fellbacher Bahnhofsstraße eröffnet, die größte kurze Zeit später in Stuttgart-Feuerbach in der Stuttgarter Straße 55. Der erste Stock des Geschäftes konnte über eine Rolltreppe erreicht werden. „Das war eine kleine Sensation damals in Feuerbach“, erinnert sich Sigrid Warscher, die als Mädchen gerne die Treppe auf und abfuhr. Insgesamt beschäftigten die Brüder Helfer zwischen 20 und 30 Angestellte. Sie verkauften vor allem Haushalts- und Kurzwaren, Geschirr, Textilien, aber auch Schuhe.
Max Helfer war ein konservativer, eher unpolitischer Geschäftsmann, der es in Stuttgart zu einem gewissen Wohlstand gebracht hat, den Kontakt zu seiner Familie in Polen aber nie abbrechen ließ. Er liebte die Natur und wandert gern. So ging die Familie sonntags häufig über Uhlbach zu den „Sieben Linden“ oder zum Jägerhaus. Seine Kinder vergötterte Helfer. Gäste waren in der Wohnung in der Uhlbacherstraße 88 immer gern gesehen. Oft tischte er selbst gemachte Liköre auf. Helfer gehörte zu den Gründern des VfB Obertürkheim. „Er ging mit uns Töchtern immer wieder zum Fußballplatz“, erinnert sich Inge Benz. „Und er hat den Verein häufig Geld oder Waren unterstützt“.
1933, wenige Monate nach dem Regierungseintritt der NSDAP, erlebt Helfer den ersten Schock: „Juden unerwünscht“ steht auf der Ladentür des Friseurs. Dabei war Helfer sein bester Kunde. Fast täglich ließ sich der schwarzhaarige Geschäftsmann mit dem starken Bartwuchs bis dahin nachmittags bei dem Friseur rasieren. Denn der Obertürkheimer legte Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Und er vergaß fast nie, eine seiner vielen gepunkteten Fliegen anzuziehen. Nur selten trug er Krawatte. Trotz der Nazi-Hetze geht die Zahl der Kaufhaus-Kunden zunächst nur geringfügig zurück. Zunehmend aber kommen die Kunden nach Geschäftsschluss oder über den Hintereingang.
Max Helfer und seine Frau leiden darunter, dass immer mehr Nachbarkinder nicht mit den ihren Töchtern spielen dürfen. „Zuletzt blieben uns die Kinder einer katholischen Familie, die im evangelischen Obertürkheim ohnehin isoliert war“, erinnert sich Sigrid Warscher. „Und zwei mal denunzierte ein benachbarter Geschäftsmann meinen Vater.“ Einmal sei Max Helfer „Rassenschande“ vorgeworfen worden, eine Beziehung zu einem „arischen“ Lehrmädchen. Die Geheime Staatspolizei hatte Helfer zwar verhaftet, doch nach einem Tag wieder frei gelassen.
Pauline Helfer hat Jahre lang um ein Visum in die USA, die Schweiz und Großbritannien gekämpft und ihr Ziel beinahe erreicht. Von den Verwandten in den USA, die wegen der Not nach dem Ersten Weltkrieg ausgewandert waren, hatte sie die schriftliche Zusicherung, dass sie die Familie unterstützen würden, was für das Visum nötig war. Um die Sprache zu lernen, hat die Stuttgarterin bereits ein Englisch-Lexikon gekauft“, erinnert sich Inge Benz. „Und sie wollte eine Nähmaschine und Stoff mit nach Amerika mitnehmen, um dort als Schneiderin arbeiten zu können.“ Doch mehr als ein guter Platz auf der Warteliste war nicht drin. Max Helfer war von den Auswander-Plänen seiner Frau nicht begeistert. „Die Leute hier kennen mich alle. Ich bin im Fußballverein. Wir sind per du. Die tun mir nichts.“ An diese Sätze erinnern sich die Töchter noch heute. Bis der VfB Helfer aus dem Verein ausschließt.
1937 werden die Angriffe auf Menschen der jüdischen Glaubensgemeinschaft immer schlimmer. Auch Helfers Kaufhäuser werden nachts beschmiert. Die Brüder beschweren sich bei den Behörden. Ohne Erfolg. Nun setzt man die Vermieter der Kaufhäuser unter Druck und fordert Beschäftigte auf, nicht mehr für die Juden zu arbeiten. Obwohl sich der Fellbacher Hausbesitzer Monate lang gewehrt hat, kündigt er schließlich auf Ende Oktober 1937 das Mietverhältnis für das Kaufhaus. Die Gebrüder Helfer widersprechen, rufen das polnische Generalkonsulat in München zu Hilfe und gewinnen schließlich den Prozeß vor dem Stuttgarter Landgericht. Auf Anraten ihres Rechtsanwalts geben sie dennoch auf und übergeben das Geschäft Ende März 1938 den „arischen“ Brüdern Sayler.
Im Herbst – noch vor der Reichspogromnacht – verliert die Familie von Max Helfer ihre Wohnung in der Uhlbacherstraße. „Mein Vater war mit dem Vermieter, der auch ein VfB-Gründungsmitglied war, befreundet“, erinnert sich Inge Benz. „Die beiden Familien haben sich gegenseitig zum Kaffeetrinken eingeladen und die Oma hat auf uns aufgepasst“ Dennoch hat der Hausbesitzer, mittlerweile Mitglied der NSDAP, den Mietvertrag gekündigt.
Anfang Oktober 1938 erlässt das autoritäre und antisemitische Regime in Polen eine Verordnung, die die Ausbürgerung von Auslandspolen bis zum Ende des Monats zum Ziel hatte. Nazi-Deutschland will den Erlass nicht akzeptieren. Denn, so der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker, damit würde dem Reich „ein Klumpen von 50.000 staatenlosen ehemaligen polnischen Juden in den Schoss fallen“. Für die Helfers ist der Streit zwischen den beiden Regierungen bedrohlich. Doch zunächst muss die Familie umziehen. Sie hatte ein kleines Häuschen im Metzlerweg 1 auf der Stuttgarter Gänsheide gefunden, das eigentlich zum Abbruch vorgesehen war.
28. Oktober 1938, einen Tag nach dem Umzug: Als es klingelt, hängt Max Helfer gerade alte Familienfotos auf. Beamte in Zivil dringen in die Wohnung ein und erklären den Kaufmann für verhaftet. Der zieht sein Jackett an, steckte sich etwas zum Waschen in die Aktentasche und verabschiedet sich von Frau und Töchtern mit den Worten: „Ich komme bald wieder.“ Helfer wird ins Gefängnis in der Büchsenstraße gebracht, wo die Gefangenen auf engstem Raum zusammengepfercht werden. Seine Frau ahnt nichts Gutes. Sie packt einen Koffer, bringt ihn ins Gefängnis, darf ihren Mann aber nicht mehr sehen. Helfer ist nicht der einzige. Auch sein Bruder und viele andere Stuttgarter mit polnischen Papieren werden inhaftiert.
„Zuerst wurden die Männer abgeholt“, berichtet Tochter Sigrid Warscher, die wie ihre Mutter und ihre Schwester ebenfalls einen polnischen Pass besaß. Warscher: „Meine Mutter ist zwar wie wir Kinder in Deutschland geboren, doch als sie meinen Vater geheiratet hatte, ging dies nur unter Aufgabe der deutschen Staatsangehörigkeit.“ Die Frauen von Max und Sigmund Helfer, Pauline und Martha, führen die Geschäfte in Stuttgart weiter.
In verschlossenen Waggons werden Ende Oktober etwa 15.000 Polen aus dem Deutschen Reich zur polnischen Grenze gebracht. Die Verhältnisse in den Waggons aus Stuttgart müssen so schlimm gewesen sein, dass ein Mädchen den Transport nicht überlebt.
Doch die Grenzbeamten des Nachbarstaates verweigern den Ausgewiesenen die Einreise, die Deutschen die Rückkehr. So müssen sie im Niemandsland warten. Nach polnischen Drohungen gegenüber den Deutschen in Polen sagt die Reichsregierung die Einstellung der Transporte zu. Im Gegenzug lassen die Behörden in Warschau die Verschleppten passieren. Max und Sigmund Helfer gehen zu ihren Eltern nach Czudec bei Kattowicz, die eine Sprudelfabrik betreiben. Zweiweise lebt Max Helfer in der Datscha der Eltern, zeitweise bei seinem jüngsten Bruder im Kattowicz. „Er konnte uns damals immer noch schreiben und wir haben geantwortet“, erinnert sich Inge Benz.
Reichskristallnacht: Die Schaufenster des Kaufhauses der Gebrüder Helfer in Obertürkheim werden in der Nacht vom 9. auf den 10 November 1938 eingeschlagen. In den Tagen danach lässt die SA den Gemischtwarenladen von Uniformierten bewachen. Jeder, der einkaufen will, wird notiert. Die Tage der beiden verbliebenen Kaufhäuser sind gezählt. „Ein SA-Mann mit Schmiß kam in unser Häuschen und zwang meine Mutter, irgend ein Blatt Papier zu unterschreiben“, erinnert sich Sigrid Warscher. „Er war groß und trug einen schwarzem Schnurrbart und Schmissen im Gesicht.“ Der Mann heißt Lukas Niklas und stammt aus Hausen im Kreis Hechingen. Er übernimmt Ende 1938 die beiden Geschäfte. Damit sind sie „arisiert“.
April 1939: Pauline Helfer bekommt für sich und die beiden Töchter einen Ausweisungsbefehl. Sigrid und Inge dürfen schon nicht mehr mit der Straßenbahn in die Wagenburgschule fahren, die sie seit dem Umzug besuchen. Zuletzt wird ihnen auch noch der Schulbesuch untersagt. „Doch der Lehrer Burghardt hatte den Mut, uns privat Englischunterricht zu geben“, erinnert sich Inge Benz, denn die beiden Mädchen sollten nach Großbritannien in Sicherheit geschickt werden. Die Quäker und die jüdischen Gemeinden hatten Transporte vorbereitet. Die Eltern, die noch in Briefkontakt stehen, sind hin und her gerissen, die Verwandten der Mutter, vor allem die Tante, bis zuletzt dagegen. Doch die jüdische Gemeinde drängt. „In ein paar Wochen, wenn alles vorbei ist“, so die letzten Sätze der Mutter bei der Verabschiedung am Stuttgarter Hauptbahnhof, „holen wir euch in England wieder ab“. Und mit „wir“ meinte sie sich und ihren Mann. Mit dem letzten Kindertransport verlassen Sigrid und Ingeborg Helfer dann kurz vor Kriegsbeginn das Deutsche Reich. Mit einer Reichsmark in der Tasche kommen sie in England an.
Pauline Helfer darf wegen des Ausreisebefehls nicht mehr lange in Deutschland bleiben. Doch dann greift Nazi-Deutschland Polen an. Jetzt kann die Stuttgarterin mit polnischen Pass und jüdischer Religionszugehörigkeit nicht mehr ausreisen. Im Januar 1940 droht ihr die Gestapo mit dem Abtransport ins KZ. Es sei denn sie ließe sich scheiden. So ist die 43-Jährige gezwungen ihre Ehe aufheben zu lassen und wird staatenlos. Sie wurde mehrmals verhört und musste bis Kriegsende immer wieder die Wohnung wechseln. Unterstützt wurde sie vor allem von ihrer Familie. Arbeiten konnte sie in Wangen in einer Heißmangel, die einem weitläufigen Verwandten gehörte. Max Helfer wurde schließlich von den deutschen Besatzern in Polen inhaftiert. Er stirbt am 2. Mai 1942 im Arbeitslager Biesiedka bei Reichshof.
Recherche und Text: Hermann G. Abmayr
Die Geschichte beruht auf folgenden Quellen:
Interviews mit den Zeitzeugen: Inge Benz, Tochter von Max, Sigrid Warscher, Tochter von Max, Hanna Zucker, Tochter von Sigmund
Archivalien: Aufschriebe von Pauline Helfer, Akte aus dem Wiedergutmachungsverfahren (27. November 1964), beides im Besitz von Inge Benz; Entschädigungsakte Josef Warscher, ES 6310, ES 597 und ES 21964 Staatsarchiv Ludwigsburg
„Das einzige jüdische Geschäft am Platze“ – Sigmund Helfer und sein Kaufhaus. In: Juden in Fellbach und Waiblingen 1933 – 1945, Fellbacher Hefte Nr. 6, Fellbach 1998
„Obertürkheimer Ortsgeschichte“ vom eingetragenen Verein Heimatbuch Obertürkheim
„Als ob es gestern war…“, eine Oral-History-Studie, Fellbach 1995