Max, Mathilde und Julius Joachim Gailinger – Mosaiksteine einer Familie
Max Gailinger wurde am 28. Juli 1882 in Bretten geboren, wo er auch die Volks- und die Realschule besuchte. Bei seinem Onkel Heinrich Gailinger, der in Stuttgart eine Metzgerei in der Nadlerstr. 17 hatte, lernte er dann wohl das Metzgerhandwerk und legte die Meisterprüfung ab. Seine aktive Militärzeit von zwei Jahren absolvierte er in Stuttgart bei den Olga-Grenadieren.
Schließlich zog er nach Erstein im Elsass, Departement Bas-Rhin, um am 30. August 1912 zu heiraten. Seine Frau Emma, geborene Bloch, stammte aus Erstein, wo sie am 26. Juni 1891 geboren wurde. Am 16. Februar 1915 kam Tochter Klarissa im elsässischen Mühlhausen, heute Mulhouse im französischen Département Haut-Rhin, zur Welt.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als das Elsass wieder französisch wurde, musste die Familie das Elsass verlassen und zog ins Reichsgebiet zurück, erst nach Feuerbach, dann nach Stuttgart, wo Max Gailinger zusammen mit einem Teilhaber in der Nadlerstraße eine Metzgerei hatte. Seine Frau Emma soll zeitweise an der Kasse gewesen sein. Sie starb Mitte Mai 1925.
Max Gailinger reiste nun alleine in die USA, seine Tochter blieb bei Verwandten in Stuttgart. Er kam jedoch nach kurzer Zeit wieder zurück. Am 2. Oktober 1926 ging er im oberhessischen Angenrod, heute ein Stadtteil von Alsfeld, eine zweite Ehe ein und heiratete Mathilde Wertheim, geboren am 23. September 1895 in Angenrod. Auch sie hatten gemeinsam ein Kind: Am 26. Januar 1929 kam Julius Joachim Gailinger in Stuttgart zur Welt.
In der Silberburgstr. 116 hatte Max Gailinger jetzt wohl eine Mastochsenmetzgerei, die sich für Ihre “1a Fleisch- und Wurst-Waren” empfahl und für Bestellungen, die pünktlich und frei Haus ausgeführt wurden. Stolz heißt es in der Anzeige „Mache auf meine neuzeitliche Kühlanlage besonders aufmerksam“.
Schon nach wenigen Jahren, vermutlich 1929 oder Anfang 1930, gab er diese Metzgerei wieder auf, vielleicht musste er es tun, schließlich war die wirtschaftliche Situation in diesen Jahren schwer. Max und seine Frau Mathilde eröffneten jetzt ein Geschäft für Fleisch- und Wurstwaren. Ihr Betrieb nahm, laut Eintragung bei der Industrie- und Handelskammer, am 1. Dezember 1930 seine Tätigkeit in der Büchsenstr. 46 auf. Für die Kunden war Max Gailinger der Chef, doch offiziell war Mathilde Gailinger die Inhaberin. Sie hielt sich jedoch kaum im Laden auf, da sie sich um ihren Sohn kümmerte.
Nach Hitlers Machtergreifung wurde es für Max Gailinger immer schwieriger, Fleisch zu beziehen. Der Schlachter Hans Teufel, der ebenfalls ein Geschäft in der Büchsenstraße hatte, soll ihm deshalb ausgeholfen haben. Teufel war kein Jude, hatte jedoch schon in früherer Zeit koscheres Fleisch für die Mitglieder der israelitischen Gemeinde geliefert. Weil Nichtjuden jetzt den Laden nicht mehr betraten und andererseits viele Juden Stuttgart verließen, musste Max Gailinger das Geschäft schließlich im Mai 1936 schließen, der Betrieb wurde aus der Handelsregisterrolle gestrichen. Er war nun gezwungen, als „Hilfsarbeiter” den Lebensunterhalt für seine Familie zusammenzubringen. Für eine Auswanderung dürfte der ganzen Familie wohl das Geld gefehlt haben. Nur Tochter Klarissa, die Kontoristin war, konnte 1936 in die USA auswandern.
Familie Gailinger war 1933 von der Silberburgstraße in den 3. Stock des Hauses Schloßstraße 54 gezogen, wo sie eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern, Salon, Wohnzimmer, Küche und Diele hatte. Hier erlebten sie alle Erniedrigungen, die Hitler und seine Schergen den jüdischen Mitbürgern antaten, so mussten Max, Mathilde und Julius Joachim Gailinger vom 19. September 1941 an den Judenstern tragen. Und von der Schloßstr. 54 aus hatten sie sich in der Ländlichen Gaststätte am Killesberg einzufinden, von wo sie am 26. April 1942 zusammen mit rund 280 Stuttgarter Juden vom Inneren Nordbahnhof aus nach Izbica bei Lublin in Polen deportiert wurden. Hier verlieren sich ihre Spuren für immer.
Nach Kriegsende wurden Max, Mathilde und Julius Joachim Gailinger auf den 8. Mai 1945 für tot erklärt. Doch je mehr über die Gräueltaten der Nationalsozialisten bekannt wurde, desto sicherer wurde, dass ihr Leben früher geendet hatte: Im Wiedergutmachungsverfahren ging man davon aus, dass sie spätestens im November 1942 ermordet wurden, in Izbica selbst, wahrscheinlicher aber in einem der Vernichtungslager Belzec, Sobibor oder Majdanek.
Vom Transit-Ghetto Izbica aus in die Vernichtungslager
Der Ort Izbica liegt südöstlich von Lublin in Polen. Eingezwängt zwischen Bergen an drei Seiten und einem Fluss an der vierten war nicht einmal ein Zaun nötig, um das Verbot durchzusetzen, den Ort bei Todesstrafe nicht zu verlassen.
Die Deportierten wurden in vorhandene Wohnungen gezwängt. Neben vielen Polen wurden von März bis Juni 1942 rund 17.000 ausländische Juden, darunter deutsche, nach Izbica deportiert. Lange hatten diese die Hoffnung, von Izbica aus zu Fabriken gefahren zu werden, nachdem sie oft schon bei der Ankunft die Ghettobewohner gefragt hatten, wo denn die Fabriken seien, in denen sie arbeiten sollten. Die Bewohner der Ghettos wussten so gut wie nichts über die Existenz der Vernichtungslager.
Viele Bewohner waren Alte, Frauen und Kinder, denn junge, arbeitsfähige Männer wurden teilweise bereits vorher bei Selektionen in Lublin von den Transporten getrennt. Die SS schickte sie dann nach Majdanek zur Zwangsarbeit.
Von Izbica aus gingen Bahntransporte in die Vernichtungslager Belzec und Sobibór. Eigentlich sollten Izbica und seine Region mit einem Abtransport am 2. November 1942 „judenfrei“ werden, doch viele blieben zurück. Sie wurden wenig später auf dem Friedhof in Izbica, vor den Augen der übrigen Bewohner des Ortes, erschossen.
Die drei Stolpersteine wurde am 30. September 2008 verlegt.
Recherche und Text: Wolfgang Kress, Stolperstein-Initiative Stuttgart-West
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg, z.B. EL 350 I Bü 23911