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Otto Rothschild, Hegelstr. 49

Otto Leopold Rothschild wurde am 15. November 1891 in Cannstatt geboren. Der Vater, Moritz Rothschild (1862-1938), war Kaufmann und Inhaber des Firma I. M. Rothschild, die Häute aus Übersee importierte. Mutter Thekla, geborene Reis (1865-1961) stammte aus Niederstetten bei Gerabronn. Komplett machte die Familie 1894 die Geburt von Alice. Im Jahr 1904 wurde die Firma von Cannstatt nach Stuttgart verlegt und die Familie zog in den zweiten Stock des eigenen Hauses in der Hegelstr. 49.

Nach der mittleren Reife machte Otto Rothschild eine kaufmännische Lehre in einer Lederhandlung. Danach bildete er sich im In- und Ausland sowie im väterlichen Geschäft weiter, für das er im Juni 1914 eine umfangreiche geschäftliche Vertretungsvollmacht erhielt. Wenige Wochen später brach der Erste Weltkrieg aus und Otto Rothschild musste „das Vaterland verteidigen“. Die Gefühle des Vaters halten ein Gedicht vom 8. Juli 1915 fest:

Abschied
Mir ist das Herz so schwer.
Die Musik, die Musik,
Die Musik kommt daher:
Taratatata Taratatata,
Bumsa. Bumsa, Bumsavalleralala.

Mit Blumen reich geschmückt
Soldaten zieh‘n ins Feld;
Sie kämpfen, sie siegen
Und Mancher fällt als Held.

Zu rasch zieh‘n sie vorbei –
Noch einen letzten Blick:
Mein Sohn, mein Sohn,
komm du gesund zurück!

Der Krieg endete für Otto Rothschild mit einer schweren Oberschenkelverwundung, die er sein Leben lang spüren sollte. Im November 1920 wurde er Mitgesellschafter der Firma I. M. Rothschild. I. M. stand für Isaak Moses (1827-1901), Ottos Großvater, der die Firma im März 1866 gegründet hatte, kurz nachdem er von Nordstetten nach Cannstatt umgezogen war. Sie wurde damals als „Rauchwarenhandlung“ bezeichnet. Rauchwaren sind hier zugerichtete und gegerbte, noch nicht (in der Regel zu Pelzbekleidung) verarbeitete Tierfelle. 1889 hatte sich der Großvater aus der Firma zurückgezogen und sie an Moritz Rothschild übergeben, der sie bis 1891 zusammen mit seinem Bruder Jakob führte. Jetzt wurde die Firma als „Importgeschäft für überseeische Häute“ bezeichnet.

Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren schwierig, zeitweise musste das Geschäft eingestellt werden, weil die Kunden nicht zahlen konnten. Erst im August 1926 ging es wieder aufwärts, doch dann kam 1933 Hitler an die Macht. Nach und nach blieben alle Kunden weg. Nachdem der Geschäftsbetrieb schon rund zwei Jahre geruht hatte, wurde die Firma am 7. März 1938 liquidiert. Einen Monat später starb Moritz Rothschild.

Otto Rothschild fühlte sich offenbar wirklich wohl als Kaufmann. Er war es eben für das Familiengeschäft geworden. Aufgewachsen in einer Wohnung mit vielen Antiquitäten und ostasiatischen Kunstwerken scheint er an Literatur und reich illustrierten Büchern Freude gehabt zu haben, wie seine umfangreiche Bibliothek beweist, von der sich wenige mit „Otto Rothschild“ signierte Exemplare erhalten haben. Durchaus mit Vergnügen scheint er seit 1936 im Büro seines Schwagers, dem Architekten Oskar Bloch, mitgearbeitet zu haben. Als dieser 1937 starb, befiel ihn geradezu eine Depression, weil er als Jude keine Arbeit mehr fand. Diese verstärkte sicherlich seine Verhaftung nach der Reichspogromnacht am 10. November 1938. Einen Monat lang war er im Konzentrationslager Dachau inhaftiert, bis er zusammen mit anderen Frontkämpfern des Ersten Weltkriegs am 12. Dezember 1938 wieder nach Hause konnte. Im August 1939 fand er bei der Mittelstelle der Jüdischen Kulturvereinigung Württemberg eine ehrenamtliche Arbeit, die ihn zunehmend in Anspruch nahm.

Die geplante Auswanderung
Spätestens seit der Reichspogromnacht wollten Otto Rothschild, seine Mutter Thekla und seine Schwester Alice Bloch Deutschland verlassen. Da Oskar Bloch Schweizer Staatsbürger, gewesen war, konnte seine Witwe im Juni 1939 mit ihren drei Kindern in die Schweiz ausreisen, wo sie in bescheidenen Verhältnissen in Zürich überlebte. In Deutschland wurden die Verhältnisse für Juden immer schlimmer, so Mutter Thekla am 23. September 1939: „Heute wurden wir [das] Radio los, innerhalb einiger Stunden mussten sie abgeliefert werden. Meine Einnahmen wurden auch gekürzt. Jeder Tag bringt was neues.“ Dies zeigen auch weit über hundert Briefe von Otto Rothschild an seine Schwester, die sich glücklicherweise erhalten haben. Am Anfang waren auf dem alten Geschäftsbriefpapier, das aufgebraucht wurde, nur die Konten und die Telegrammadresse gestrichen, bald war es auch die Telefonnummer. Dann stand ab Dezember 1939 im Absender der Beiname „Israel“. Und spätestens seit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden alle Briefe von der Zensur geöffnet.

Um finanziell über die Runden zu kommen, mussten Otto Rothschild und seine Mutter Untermieter aufnehmen, was schon im Frühsommer 1939 eine behördliche Genehmigung erforderte. Wegen der beabsichtigten Auswanderung wurde das Haus in der Hegelstraße verkauft, was ebenfalls behördliche Genehmigungen erforderte. Der Verkaufserlös sollte auch das Auskommen von Otto Rothschild und seiner Mutter absichern, denn ausführen durften sie das Geld damals nicht. Wie üblich war beim Verkauf vereinbart worden, dass sie bis zur Auswanderung in ihrer Wohnung bleiben konnten.

Mutter Thekla Rothschild konnte Deutschland am 9. Mai 1941 verlassen und über Singen zu ihrer Tochter in die Schweiz einreisen. Mit viel Energie und trotz einer Ablehnung des Antrags durch die Schweizer Behörden im ersten Anlauf war Alice Bloch dies gelungen. Die Mutter war eine direkte Verwandte, außerdem hatte ein Onkel in den USA gebürgt, sie mit monatlich 50 Dollar zu unterstützen. Otto Rothschild begleitete seine Mutter bis Singen und besuchte dann den Hohentwiel, wo er den Fernblick genoss und sich vorstellte, wie seine Mutter jetzt von der Schwester empfangen wurde. Thekla Rothschild starb 1961 in Zürich.

Otto Rothschild hatte bis dahin seine eigene Auswanderung nicht zu drängend vorangetrieben, da er seine Mutter nicht alleine zurücklassen wollte. Weil er für die Schweiz keine Erlaubnis bekam, dachte er an ein vorübergehendes Ziel, egal wo, doch war ihm klar, dass diese ohne Mitwirkung der Verwandten in den USA, des gleichen Onkels, der auch seiner Mutter geholfen hatte, nicht möglich war. Natürlich hatte auch er bei diesem Onkel um Hilfe gebeten, so wie viele andere Familienangehörige und Freunde. Doch eine Antwort, die Bürgschaft, blieb aus. Vorübergehend unterließ er es, seine Bitte zu erneuern, weil andere Verwandte vom Onkel noch die letzte Hilfe zur Auswanderung benötigten und er da nicht stören wollte.

Vom amerikanischen Konsulat hatte Otto Rothschild die Auswanderungsnummer 16355 bekommen. Im März 1940 traf dann endlich die Bürgschaft in Form eines knappen Briefes ein. Die Freude war groß, doch abgesehen davon, dass der Brief nichts zu den Passage- und Transportkosten sagte, die seit Ende 1939 ebenfalls vom Ausland aus in Devisen geleistet werden mussten, stellte das amerikanische Konsulat einen Monat später fest, dass das hohe Alter des Onkels eine „Garantie“ von rund 2500 Dollar nötig machen würde. Erneut wurde der Onkel um Hilfe gebeten, ebenso wie Freunde und Verwandte, die sich bei diesem für ihn einsetzen sollten. Doch eine Antwort kam nicht. „Nach Deinen letzten Nachrichten bin ich aber wegen der erforderlichen Garantie recht pessimistisch geworden. Ich kann auch vorerst nichts Anderes tun als abwarten, ob vielleicht doch noch etwas bei Onkel M. zu erreichen ist“, schrieb er am 15. Juli 1940 an seine Schwester. Eine weitere Erschwernis war nun, dass die Erteilung eines amerikanischen Visums von einem bestätigten Platz auf einem Schiff abhängig gemacht wurde, diese aber auf Monate hinaus ausgebucht waren. Fast in jedem Brief sprach Otto Rothschild nun die Frage der Auswanderung an, z. B. auf welcher Route, ob über See oder über die Mandschurei und Japan. Kontakt hatte er mit der jüdischen Auswanderungsstelle in Stuttgart, die aber nur wenig helfen konnte.

Nachdem die Mutter sicher in der Schweiz war, gewann das Thema noch mehr an Bedeutung, zumal immer mehr Freunde und Verwandte jetzt eilends Stuttgart und Deutschland verließen. Weil sich die Auswanderung hinzog entsprach er nun dem Wunsch der neuen Hausbesitzerin in der Hegelstraße und suchte sich eine andere Unterkunft. Vom 1. Juli 1941 an hatte er ein Zimmer zur Untermiete in der Reinsburgstraße 107, einem Haus in jüdischem Besitz, in dem nur Juden wohnten, einem sogenannten „Judenhaus“. Doch die Chancen zur Auswanderung, dem rettenden Tor zur Freiheit, wurden für Otto Rothschild immer geringer, denn der amerikanische Onkel, schon länger krank, starb. Ob von dessen Frau und Familie Hilfe zu erwarten war? Er schrieb am 21. Juni 1941 seiner Mutter: „Meine Hoffnungen auf eine baldige Auswanderung sind jedoch ganz abgesehen von Bürgschaftsfragen zurzeit auf dem Nullpunkt angelangt, denn inzwischen ist eine Veränderung der Lage eingetreten.“ Die USA standen vor dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg und schlossen ihre Konsulate in Deutschland. Wären seine Papiere schon unterwegs gewesen, hätte er vielleicht noch über die Schweiz ein Visum in die USA bekommen können. Andere Länder wurden zur letzten Hoffnung, wenn Hilfe aus den USA noch gekommen wäre.

Am 2. September 1941 schrieb er seiner Mutter: „Ich selbst denke viel an die Auswanderung. Die Möglichkeiten schrumpfen aber immer mehr zusammen.” Und am 9. an seine Schwester: „Verschiedene Umstände machen es jetzt erforderlich, dass ich meine Auswanderungsangelegenheit sofort und ohne Verzug in die Hand nehme. Die Vorarbeiten für Liberia werden von unserer Auswanderungsstelle geleistet.“ 300 Dollar waren zunächst nötig. „Ich bitte dich sofort, … nach USA zu kabeln. Das Geld muss irgendwie beschafft werden. Die Sache duldet nun keinen Aufschub mehr.” Seit dem 19. September 1941 musste er den „Judenstern“ tragen.

Am 24. September 1941 schrieb er nach Zürich: „Das Hauptthema hier ist und bleibt die Auswanderung. Wer irgendwie Verwandte und Bekannte hat, versucht alles Menschenmögliche, um seine Auswanderung zu realisieren. Je früher diese erfolgen kann, je besser ist es. Leider hat man bis jetzt nur von einzelnen Zusagen von drüben gehört. Täglich geht ein ganzer Schwall von Telegrammen hinaus. Die grosse Mehrzahl, darunter auch ich, ist immer noch in Erwartung, was wenigstens das Gute hat, dass man immer noch hoffen darf.” Andere hatten mehr Glück, weshalb er am 6. Oktober 1941 verzweifelt feststellte: „Die Familie ist klein geworden und der Rest ist auf der ganzen Welt zerstreut.”

Seine Briefe werden immer dringlicher, so am 26. Oktober 1941: „Ich muß immer wieder betonen, es ist nun höchste Zeit, dass etwas geschieht. … Die Zeit ist jedenfalls kostbar und was heute noch möglich ist, kann in kurzer Zeit anders sein, selbst wenn dann alle Voraussetzungen für die Auswanderung erfüllt sind. Kurz nach seinem 50. Geburtstag am 15. November 1941 schrieb er: „Von USA habe ich noch keine Antwort und selbst wenn ich eine hätte, würde dies augenblicklich wenig ändern. Ob und wie weit eine Auswanderung noch möglich ist, lässt sich im Moment noch nicht sagen. Trotzdem ist es gut, etwas Positives in der Hand zu haben, ganz abgesehen davon, dass für Viele das Gefühl nicht vergessen zu sein, schon eine grosse Erleichterung bedeuten kann.”

Alice Bloch hatte versucht, für ihren Bruder wenigstens eine vorübergehende Einreisemöglichkeit in die Schweiz zu erreichen, was nicht klappte. Dann wollte sie ihm mit ihren bescheidenen Mitteln selbst noch ein Kubavisum verschaffen. Doch es war zu spät. Am 6. Dezember 1941 dankte er ihr für diesen „opfervollen Beweis schwesterlicher Liebe“, forderte sie aber auf, sich derzeit nicht finanziell zu engagieren, da zur Zeit keine Ausreise möglich sei und es dann sein könnte, dass sie ihr Geld trotzdem verliert.

Am 27. Dezember 1941 spricht er zum letzten Mal von Auswanderung: „Meine Auswanderungspläne muss ich natürlich jetzt ad acta legen, da keinerlei Ausreise mehr möglich ist.” Am 1. Dezember 1941 waren die ersten Stuttgarter Juden nach Riga deportiert worden. Der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg brachte schnell auch die Post dorthin zum Erliegen. Zu den wenigen Glücksmomenten in seinem Leben gehörten jetzt noch die Päckchen mit Kaffee, Tee oder Schokolade, die aus der Schweiz oder von dort veranlasst ihren Weg zu ihm fanden.

Die Deportation
Zum 1. März 1942 musste Otto Rothschild ein Zimmer in der Kernerstr. 11, ebenfalls einem „Judenhaus“, beziehen. Am 18. August teilte er seiner Familie mit, “dass ich in nächster Zeit eine Reise antreten werde, die nun unaufschiebbar geworden ist. Wenn Ihr nun einige Zeit nichts mehr von mir hören solltet, so seid deswegen nicht in Sorge.” Am 22. August 1942 wurde Otto Rothschild zusammen mit vielen Verwandten und Freunden in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Zuvor hatte er sich dort für 15.000 Reichsmark einen Heimplatz kaufen müssen. Gelegentlich erreichten seine Familie in Zürich noch Karten, in denen er davon schrieb, dass es ihm ordentlich ginge, er Arbeit habe und immer wieder Verwandte und Freunde treffen würde. Hoffnung gab ihm jetzt nur noch die Post, die er von der Familie erhielt.

Am 28. September 1944 wurde Otto Rothschild in das Vernichtungslager Auschwitz weitertransportiert, wo er noch am gleichen Tag in einer Gaskammer ermordet wurde. Unter diesem Datum wurde er deshalb im Januar 1949 auch amtlich für tot erklärt.

Die letzte bekannte Karte von Otto Rothschild an die Mutter und die Schwester in Zürich stammt vom 14. August 1944. Abgestempelt wurde sie in Berlin am 28 September 1944, dem Tag des Weitertransports nach Auschwitz und seiner Ermordung.

Am 22. November 2011 wurde für Otto Rothschild ein Stolperstein verlegt.

Recherche und Text: Wolfgang Kress, Stolperstein-Initiative Stuttgart-West