Roland Stūtz – ein elfjähriges Kind wird Opfer der NS-“Euthanasie” –
Samstag, der 6. Juli 1929, war sicherlich ein glücklicher Tag für den Juwelier Alois Stütz und seine Frau lda, denn nach einer sehr schwer verlaufenen Geburt kam das dritte Kind endlich zur Welt. Die beiden Sohne Ewald und Hermann Stütz hatten damit nach sechs Jahren ein Brüderchen bekommen, das auf den Namen Roland getauft wurde. In der Moltkestraße. 12B, der heutigen Bebelstraße, wo die Familie damals wohnte, hielt der neue Erdenbürger seine Eltern sicherlich lautstark in Trapp, aber das gehört ja nun einmal dazu. Doch schon bald zeigte sich, dass Roland kränkelte und in seiner Entwicklung gegenüber Gleichaltrigen körperlich und geistig zurückblieb. So brauchte er doppelt so lange, bis er mit 2 ‘2 Jahren stehen und gehen konnte. Später musste er auch von der Schule zurückgestellt werden. Eine “außergewöhnlich große Unruhe” und ein Downsyndrom, wie es heute genannt wird, stellte der Amtsarzt im Stuttgarter Gesundheitsamt damals fest.
Zwei Jahre später, im April 1937 wurde Roland Stütz erneut untersucht, Fortschritte in seiner Entwicklung zeigten sich keine. Voller Unruhe sprang und lief das Kind während der Untersuchung hin und her, versuchte nach allem zu greifen, was es sah, kletterte auf Stuhl und Sofa. Selbst das Tintenfass des Amtsarztes versuchte es vom Tisch zu reißen. Musikalisch soll Roland jedoch gewesen sein, denn von “Hänschen klein” konnte er vier Strophen singen. Dem Amtsarzt verweigerte er allerdings eine Kostprobe.
Die Krankheit von Roland beeinflusste zunehmend das Leben der Familie. Die Mutter war stark mitgenommen, denn sie konnte das Kind keinen Augenblick aus den Augen lassen, auch nachts verlangte er nach Aufmerksamkeit. Darunter litten natürlich auch seine beiden Brüder, die schlicht zu kurz kamen. Trotzdem fiel es den Eltern sehr schwer, darum zu bitten, dass Roland in ein Heim aufgenommen wurde, in Stetten in die “Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptische”, wie sie damals hieß. So lastete trotz aller Erleichterung ein dunkler Schatten auf der Familie, nachdem Roland Stūtz am 5. Juli 1937 nach Stetten gekommen war.
Während man sich in der Anstalt Stetten um das Kind kümmerte, begann sich das NS-Regime zunehmend Gedanken darüber zu machen, wie mit “unwertem Leben” als Kostenfaktor und “unnützen Essern” umgegangen werden sollte. Der vom NS-Regime angezettelte Zweite Weltkrieg wurde dann als Grund vorgeschoben, um angeblich aus kriegswichtigen Gründen kranke Menschen in andere Einrichtungen zu verlegen. Doch in Wirklichkeit war beschlossen worden, die kranken Menschen auszulöschen. Die von der Tiergartenstraße 4 in Berlin aus gesteuerte „Aktion T4″ wurde für den Südwesten vom württembergischen Innenministerium in Stuttgart organisatorisch umgesetzt: Auf der Basis einer zentralen Erfassung mittels Meldebögen wurden für alle Heil- und Pflegeanstalten Deportationslisten aufgestellt. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Arbeitsfähigkeit.
Wenn die grauen Busse der „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH” in dem nun zynisch als „Landespflegeanstalt” bezeichneten Schloss Grafeneck ankamen, wurden die Deportierten am selben Tag in einer Gaskammer mit Kohlenmonoxid getötet. Ihre Leichen wurden verbrannt. Ein eigens eingerichtetes Sonderstandesamt sorgte für die bürokratische Ordnung, wobei Angehörige und Öffentlichkeit mit falschen Angaben systematisch getäuscht wurden. Dem NS-Regime und seinen Helfershelfern war nämlich bewusst, dass kein Gesetz dieser Welt ein derartiges Verbrechen rechtfertigen kann und konnte.
Am 13. September 1940 fuhren die “Grauen Busse” wieder einmal in der Anstalt Stetten vor. Zu den Bussen wurde auch der elfjährige Roland Stütz gebracht. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er noch am gleichen Tag in Grafeneck ermordet. Die fassungslosen Eltern bekamen wenig später einen Brief mit der “traurigen Mitteilung, dass ihr Sohn Roland im Herbst 1940 an einer Lungenentzündung verstorben ” sei. Die von ihnen angeforderte Urne wurde auf dem Stuttgarter Waldfriedhof beigesetzt. Für Eltern und Brüder, von denen einer 1944 in der Normandie fiel, war der Tod von Roland Stütz eine Wunde, die ihr Leben lang nie vernarbte. Und seine Nichte Beate Papp, auf deren Initiative der Stolperstein jetzt verlegt wird, schreibt: “Mein ganzes Leben hat mich das Schicksal von meinem Onkel beschäftigt und niemals mehr in Ruhe gelassen, seitdem ich als Kind davon erzählt bekam.
Recherche: Elke Martin; Ergänzung und Text: Wolfgang Kress
Quelle: Bundesarchiv Berlin R 179 Bü 381
71 Jahre nach Grafeneck
In dem vor Kurzem von ihr herausgegebenen Buch “Verlegt- Krankenmorde 1940-41 am Beispiel der Region Stuttgart” (Peter-Grohmann-Verlag, Stuttgart 2011) stellt Elke Martin fest, dass allein in den Jahren 1940/1941 mindestens 674 Stuttgarter der Krankenmordaktion T4 zum Opfer fielen. Das waren mindestens 363 Frauen und mindestens 311 Männer. Sie kamen aus 26 Anstalten in Württemberg und Baden. In der überwiegenden Mehrzahl wurden sie in Grafeneck ermordet. Aber auch in der später eröffneten Mordanstalt im hessischen Hademar kamen Stuttgarter ums Leben. Das älteste Opfer wurde im Alter von 84 Jahren in Grafeneck ermordet, das jüngste war gerade mal vier Jahre alt.
Bisher sind 10 654 Menschen bekannt, die vom Januar bis zum Dezember 1940 in Schloss Grafeneck bei Münsingen planmäßig getötet wurden: kranke, behinderte, alte und andere von den Nazis als .unwert” bezeichnete Menschen. Insgesamt wurden in Grafeneck und später in den fünf weiteren Tötungsanstalten des Reichs mehr als 70.000 Menschen ermordet, was einen beispielslosen Zivilisationsbruch bedeutet.
Als im Dezember 1940 das Morden in Grafeneck eingestellt wurde, waren 50 Prozent
aller württembergischen Anstaltspatienten bereits tot. Doch das Morden ging im hessischen Hadamar und in den anderen Tötungsanstalten des Reichs weiter. Nicht zuletzt infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise gab es schon vor 1933 Ideologen, die Menschenleben bewerteten und zweckrational etwa berechneten, wie viele Kartoffeln von Ballastexistenzen ” oder .geistig Toten” verbraucht wurden. Die Nationalsozialisten machten dieses barbarische Gedankengut zum Programm. Schon 1933 legalisierten sie im, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” Zwangssterilisationen. Für den unter dem irreführenden Begriff „Gnadentod ” begangenen Massenmord gab es aber keine gesetzliche Regelung. Bei Kriegsbeginn verschärfte sich der Ton, die Schwachen wurden zu „Feinden des Inneren” stilisiert, gegen die man sich „zur Wehr setzen” musste.
In sogenannten „Kinderfachabteilungen” wurden bis 1945 etwa 5.000 missgebildete Neugeborene und behinderte Kinder getötet, nachdem ihr Leben als „unwert” beurteilt worden war. Und nachdem im August 1941 die planmäßige Vernichtung auch in den Gaskammern der übrigen Tötungsanstalten des Reiches eingestellt wurde, kam es in der Folge bis über das Kriegsende hinaus durch gezielte Unterversorgung von Anstaltspatienten zu einem massiven Anstieg der Sterblichkeit in den Heil- und Pflegeanstalten. Andere Patienten wurden einfach durch Spritzen getötet.
Die Täter von Grafeneck hatten sich indes für höhere Karieren qualifiziert, so wurde etwa der Leiter Christian Wirth später Inspekteur der Vernichtungslager. Von den 80-100 in Grafeneck Beschäftigten wurden nur 8 angeklagt. Die Richter des Schwurgerichts Tübingen verurteilten 1949 drei Angeklagte wegen „Beihilfe zum Mord” zu Gefängnisstrafen zwischen 18 Monaten und 5 Jahren.
Auch 71 Jahre nach Grafeneck ist die Aufarbeitung dieser Geschichte noch lange nicht abgeschlossen. Abstrakte Gedenkpraktiken werden heute zunehmend von konkreten Fragen zum Schicksal der Opfer – und auch zur Schuld der Täter- abgelöst: ein Fortschritt in Richtung eines tieferen Verständnisses, zu welchem auch die Stolpersteine beitragen.
(Nach einem Text des Arbeitskreises “Euthanasie”)
Weitere Informationen zur „Euthanasie” bzw. zu den Stolpersteinen finden Sie im Internet
unter www.gedenkstaette-grafeneck.de.