Antifaschistischer Widerstandskämpfer, Interbrigadist im Spanischen Bürgerkrieg
„Heimatvertrieben durch den deutschen Faschismus, ohne Daseinsberechtigung im demokratischen Ausland wie Wohnen, Recht auf Arbeit oder Unterstützung für den Unterhalt zum Leben – nur auf die Solidarität antifaschistischer Kreise angewiesen, die keinerlei legale Basis hatte – war für uns die Verhinderung der Ausdehnung des deutschen Faschismus in Europa und dessen seinerzeitige Intervention in die Ereignisse auf spanischem Boden verbunden mit den Kriegsvorbereitungen zum Zweiten Weltkrieg, eine politische Notwendigkeit und moralische Tat.“ (Rudolf Sperandio, 1996)
Kindheit und Jugend
Die Vorfahren von Rudolf Sperandio sind im 19. Jahrhundert vor Armut und Hunger aus Caoria, einem kleinen Dorf im Trentino/Südtirol bis nach Schwaben ausgewandert, wo Rudolfs Vater, auch mit Namen Rudolf, die oberschwäbische Bauerntochter Luise, geborene Veser, auf seine Wanderschaft mitnahm. Als „fahrende Leute“ – er spielend, sie singend – schlugen sie sich nach Köln durch, wo Rudolf Sperandio als erstes von vier Kindern 1908 geboren wurde.
Seine Jugend verbrachte Rudolf in Friedrichshafen am Bodensee, wo der Vater 1914 als Mitglied des Arbeiterfahrradbundes dessen Fahne zur Weihe trug. 1917 zog die Familie nach Stuttgart – zunächst in eine Dachgeschosswohnung in der Duisburger Straße, dann in den Sparrhärmlingweg 51. Rudolf besuchte bis 1923 die Altenburgschule. Als Ältester war es auch seine Aufgabe, morgens die jüngeren Geschwister mit auf den Weg zur Altenburgschule zu bringen.
1923 bis 1927 erlernte Rudolf das Marketeur-Kunsthandwerk (Intarsien für Möbel) bei Gottlob Schneider in Stuttgart-Untertürkheim und an der Fachschule für Marketeure in der Weimarstraße in Stuttgart, wo er seine Gesellenprüfung ablegte. Anschließend arbeitete er als Marketeur bei den Firmen Emil Müller in S-Ost, Josef Opferkuch, Willy Beck und Otto Weber in S-Bad Cannstatt. 1931 bis 1933 besuchte er die Meisterschule an der Gewerbeschule Maschinenbau in S-Bad Cannstatt, wo er vor seiner Flucht noch die theoretische Meisterprüfung ablegte. Vermutlich befinden sich heute in manchen Antiquitätengeschäften und Haushalten noch Zeugnisse der qualitätvollen Handwerkskunst von Rudolf Sperandio.
Sein Vater arbeitete in dieser Zeit als Schlosser bei der Stadtbau-Inspektion III in Bad Cannstatt und engagierte sich als Betriebsrat für die Belange der städtischen Arbeitenden. Die Stadt Stuttgart entließ ihn nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zusammen mit 198 weiteren städtischen Beamten, Arbeitern und Angestellten im Juni 1933 mit der fadenscheinigen Begründung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das Hitler erlassen hatte, damit Oppositionelle entlassen werden konnten. Der Film „Die doppelte Lücke“ zeugt davon, dass an sie bis heute nicht im Stuttgarter Rathaus erinnert wird.
Die Mutter, eine selbstbewusste Arbeiterfrau, die sich vom Arzt und Kommunisten Friedrich Wolf behandeln ließ und der Vater, ein Vollblutmusiker und ein politisch engagierter Arbeiter prägten früh die politische Haltung Rudolfs. Er besuchte die Marxistische Arbeiterschule in Stuttgart, war Mitglied bei den Naturfreunden und im kommunistischen Jugendverband, wo er als einer der jugendlichen Fahrradkuriere den „Stuttgarter Kabelanschlag“ absicherte und als Agit-Prop-Leiter wirkte.
Familie Sperandio Ende der 1920er Jahre. Rudolf hinten links stehend. Rechts von Rudolf seine Schwester Luise, vorne rechts neben der Mutter Luise die jüngeren Brüder Emil und Franz und rechts daneben der Vater Rudolf
Machtergreifung, Exil, Interbrigaden
Als der Vater am 8. März 1933 zusammen mit den ersten 200 Stuttgarter Nazigegnern verhaftet und ins Lager Heuberg gebracht wurde, war auch für Rudolf und seine Geschwister höchste Gefahr verhaftet zu werden. Spätestens als der Vater am 6. August 1933 nach seiner Entlassung wieder zu Hause war, bereitete Rudolf, der beim Verteilen von „Die junge Garde“-Flugblättern erwischt worden war, seine Flucht vor, um der Verhaftung zu entgehen. Er versteckte sich zunächst im Hasenstall im Garten im Hallschlag, bevor er dann mit Hilfe von Genossen in die Schweiz entkam. Er arbeitete als Fensterputzer im Baseler Bahnhofsgebäude und im Büro der „Roten Hilfe“ und traf in Basel den Emigrationsleiter August „Gustl“ Stöhr. Er wohnte bei Kameraden in der Feldbergstraße in Basel, bis er im November 1936 trotz seines laufenden Asylverfahrens ausgewiesen wurde.
In dieser Situation folgte er dem Aufruf der Kommunistischen Internationale, die junge spanische Demokratie und ihre demokratisch gewählte Volksfrontregierung gegen die faschistischen Putschisten von General Franco zu verteidigen.
Der illegale Grenzübertritt bei Mühlhausen, die Reise über Paris nach Perpignan, Figueras, Barcelona, Valencia und Albacete in Spanien war eine weitere Flucht.
Unter der Losung „No pasaran“ kämpften bei den Interbrigaden Freiwillige aus 21 Nationen für den Sieg der Demokratie über den Faschismus. Unter ihnen Rudolf Sperandio, sein späterer Schwager Hanns Maaßen, Menschen unterschiedlicher Berufe – auch viele Kulturschaffende wie die Schriftsteller Erich Weinert, Ernest Hemingway, Pablo Neruda, Federico García Lorca, Alfred Kantorowicz, Willy Bredel, Hans Marchwitza, der Maler Pablo Picasso und der Cellist Pablo Casals.
Mit der am 16. November 1936 in Albacete zusammengestellten deutsch-polnischen Freiwilligentruppe, dem Tschapaiew-Batallion, nahm Rudolf Sperandio an den Frontkämpfen bei Teruel, Malaga, in der Sierra Nevada, in Pozoblanco und zuletzt in Brunete teil, wo nach Verwundung und Tod vieler Kämpfer 1937 das Tschapaiew-Bataillon aufgelöst wurde. Die letzte Station im Spanischen Bürgerkrieg war für Rudolf danach die „Brigade XI“.
Nach der Niederlage der Republik wurden die Interbrigaden aus Spanien abgeschoben und Rudolf floh nach Paris.
Haft und Lager
In Paris wurde Rudolf Sperandio 1939 als „unerwünschter Ausländer“ verhaftet. Nach Inhaftierung in den französischen Lagern Gurs, Cyprien und Argeles-sur-Mer lieferte ihn das französische Vichy-Regime im Mai 1941 an die deutsche Gestapo aus.
Der Richter Hermann Cuhorst verurteilte Rudolf Sperandio im November 1941 zu fünf Jahren Haft wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“. Als 1945 am Ende einer mehr als vierjährigen Haft in den Zuchthäusern Ludwigsburg, Zweibrücken und Siegburg die Gefangenen vor den heranrückenden Alliierten verlegt werden sollten, gelang Rudolf zusammen mit 20 sozialdemokratischen Mithäftlingen die Flucht.
Befreiung und Neuanfang
Rudolf Sperandio war 36 Jahre alt und 73 Monate in Haft gewesen, bevor er am 27. Mai 1945 auf den Hallschlag zurückkehrte. Obwohl gesundheitlich und psychisch schwer gezeichnet engagierte er sich umgehend im Arbeitsausschuss Bad Cannstatt. Man übertrug ihm die Zuständigkeit für den Einsatz von Jugendlichen bei der Wiederherstellung der Cannstatter Schulen für den Schulbetrieb. In einem ausführlichen Bericht gibt er Zeugnis von der besonderen Wiederaufbauleistung der Jugendlichen und der bald aufgelösten Arbeitsausschüsse.
1946 heirateten Rudolf Sperandio und Hilde Schmohl. Der Sohn Claus (Claudio) wurde 1947 geboren.
Von der „Wiedergutmachung“ – 3,20 Mark pro Hafttag – kaufte Rudolf im entlegenen Stadtteil Schönberg ein Grundstück, auf das die Familie in Eigenarbeit ein Familienzuhause erbaute, in dem dann auch der Naturfreunde-Vorsitzende Emil Birkert wohnen konnte.
Rudolf arbeitete bei der Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG) – Wohnraum für alle unter menschenwürdigen Bedingungen war sein Anliegen. 1962 starb seine Frau Hilde, mit der er auch bei der Naturfreunde-Ortsgruppe Degerloch aktiv gewesen war. 1967 heiratete er seine spanische Haushaltshilfe Sinfronisa Porras Gonzales, die nach seinem Tod nach Spanien zurückkehrte.
Rudolf Sperandio, der ein besonnener und nachdenklicher Mensch war, setzte sich in seinem langen Leben immer für Frieden, Völkerverständigung und das Lernen aus der Geschichte ein. Die Cannstatter Zeitung vom 30. Juni 1995 beschreibt ihn anlässlich eines Erinnerungsrundgangs, den er mit der Friedensinitiative Hallschlag durchgeführt hatte, als „immer bereit für die Jugend“.
Rudolf Sperandio blieb auch nach dem Verbot der KPD 1956 Kommunist – er trat in die DKP ein und blieb bis zu seinem Tod am 20. August 2004 Mitglied, wie auch in der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN), in den „Naturfreunden“ und in dem „Verein der Kämpfer und Freunde der Spanischen Republik 1936-1939“ (KFSR).
Der letzte Stuttgarter Interbrigadist wurde am 27. August 2004 auf dem Ostfilderfriedhof Stuttgart-Sillenbuch beigesetzt. Auch sein Sohn Claus „Claudio“, an den sich viele im Stuttgarter Osten nicht zuletzt wegen der gemütlichen Bücherbodega in der Heinrich-Baumann-Straße gerne erinnern, ist seit 2007 dort begraben.
Rudolf mit Frau Sinfro, Felix und Adele im Garten in Stuttgart-Schönberg
Am 18. Juni 2024 wurde vor dem Haus Sparrhärmlingweg 51 ein Stolperstein für Rudolf Sperandio verlegt.
Recherche: Gudrun D. Greth und Familie Sperandio
Text: Gudrun D. Greth, Stolperstein-Initiative Stuttgart-Ost