Simon Tanne, Kaufmann, geboren 26.4.1864 in Rozniatow/Polen (1) .
Ehefrau Esther-Feiga Falk, geboren 8.9.1869 in Rolazowei/Polen.
– Tochter Frieda, Hagen/Westf., Ehefrau von Moritz Rimpel.
– Sohn Samuel Leib, genannt Siegfried, geboren 4.12.1902 Stuttgart.
– Tochter Regina, Ehefrau von Josef Brücke.
– Tochter Perlin, Ehefrau von (Chiel) Max Feldmann.
– Sohn Max, ledig, Kaufmann, geboren 3.04.1914 Stuttgart.
Simon Tanne ist erstmals im Stuttgarter Adressbuch von 1898 genannt; er war zu dieser Zeit 33, seine Frau Esther 28 Jahre alt. Ob er bereits verheiratet war und Eltern und Kinder mitbrachte, können wir nur vermuten.
In Stuttgart baute er sich mit Großhandel eine Existenz auf. Es war eine schwere, aber auch erfolgreiche Zeit, vor und während des Ersten Weltkrieges. – Fünf Kinder hatte das Ehepaar. Mit den Familien der Kinder wuchs die Großfamilie heran, und das Unternehmen entwickelte sich gut – trotz schwerer Krieg- und Nachkriegszeit mit Inflation und Wirtschaftskrise!
Simon Tanne wechselte öfters die Wohnung: erste Unterkunft in der Kanalstr. 20p, zog in die Hohenheimer Str. 33, in die Weberstraße 110 (2) , von der Brunnenstraße 22 in die Silberburgstraße 131 und in die Olgastraße 69A, bis er nach dem Ersten Weltkrieg in das eigene Wohn- und Geschäftshaus Olgastraße 75 ziehen konnte.
Dieses Haus war 21 Jahre lang der Lebensmittelpunkt der Großfamilie, auch der Familie der Tochter Perlin, die mit Chiel Feldmann verheiratet war. Der Schwiegersohn war Mitbegründer und Mitinhaber der Firma Feldmann & Tanne GmbH. Die Familie des Sohnes Siegfried mit Frau Clara und vier Kindern gehörten dazu – bis zur Enteignung im Jahr 1940 (3).
Schon vor dem Ersten Weltkrieg gründeten Simon Tanne und Chiel Feldmann gemeinsam den Großhandel, den sie zu einer Warenhauskette mit Filialen in Stuttgart (Tübinger Str. 6, Kleine Königstr. 1, Karlstr. 5-7, Kronprinzenstr. 30-32) Ebingen, Reutlingen und Augsburg ausbauten; es handelte sich um Kurz-, Galanterie- (heute besser verständlich unter: „modische Accessoires“) und Spielwarengroßhandel (4). Auch das Wohnanwesen Olgastraße 75 mit „Wohnhinterhaus, Holzställen, Hofraum und Winkel“ sowie Grundstück Parz. 3273/1 mit Lustgarten hinter dem Haus und „Feldweg 58 in der Heusteig“, gehörten Simon Tanne und Schwiegersohn Chiel Feldmann je zur Hälfte.
Die sich anbahnenden politischen Veränderungen, die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, veranlassten Chiel Feldmann 1932 seinen Vornamen in Max zu ändern, “um einer gewissen Auffälligkeit zu entgehen.”
1933 bis 39 unterlagen die Warenhäuser dem Boykott; am 1.08.1938 wandeln die Inhaber die Geschäftsform in eine OHG, 20 Monate später mussten sie ihre Firma abmelden, sie wurde aus dem Handelsregister gelöscht.
„Am 26. Oktober 1938 verhängte der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, ein sofortiges Aufenthaltsverbot für die im Deutschen Reich lebenden Juden polnischer Herkunft, die seit mehr als fünf Jahren in Deutschland ansässig waren und durch eine kurz zuvor ergangene neue Verordnung der polnischen Regierung zu staatenlosen Menschen erklärt worden waren. Während die Gestapo im Auftrag des Auswärtigen Amtes die Abschiebeaktion veranlasste (…), lag die konkrete Durchführung bei der Schutzpolizei. In den beiden folgenden Tagen wurden etwa 18.000 “Ostjuden aus dem Reich”, gegen die die NS-Propaganda seit Jahren Front gemacht hatte, festgenommen und an die polnische Grenze nach Bentschen (Zbaszyn) gebracht” (5). Wieviele jüdische Bewohner Stuttgarts davon betroffen waren, ist nicht bekannt. – Dieses Datum war der Auftakt zur systematischen Judenverfolgung.
Auszug aus der Chronik der Stadt Stuttgart 1933-1945:
„27./28. Oktober 1938: In der Nacht werden die Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhaftet und mit einem Zug nach Polen abtransportiert. Man bringt sie zunächst in das Polizeigefängnis in der Büchsenstraße, wo Vertreter jüdischer Organisationen sie noch mit Kleidern und Lebensmitteln versorgen können. Durch Verhandlungen mit Beamten der Ausländerpolizei erreichen sie, dass einige Juden nicht deportiert werden.“
Die Eltern Tanne und Sohn Siegfried hatten einen polnischen Pass (6) .
Simon und Esther wurden wegen ihres Alters „zurückgestellt“. Sohn Siegfried wurde im Zug an die polnische Grenze transportiert.
Die Zurückgebliebenen waren weiterhin den Schikanen – wie alle jüdischen Bürger Stuttgarts – ausgesetzt: Die Firma wurde „arisiert“. Die gemieteten Räume des Kaufhauses in der Tübinger Str. 6 werden (Kaufvertrag v. 28.11.1938) von Karl Metzger übernommen und als Firma „Tanne“ (auch kadep) betrieben. Das Kaufhaus in der Kronprinzenstr. 30-32 wurde 1942 von Hugo Eisele, Otto Bossert und Paul Burger übernommen. Das umbenannte Kaufhaus „Hugo Eisele AG“ in Göppingen wurde weitergeführt. Kronprinzenstraße 30/32 und Olgastraße 75 und 75A waren 1945 Ruinengrundstücke.
Simon Tanne führte als Angestellter die Filiale für „Hausierer“ der F & T weiter. Er war Kundenbetreuer, Lagerist etc. – Simon Tanne wurde als „streng religiöser Mann“ charakterisiert und beanstandet, “dass am Sabbat die Geschäfte geöffnet blieben.”
Der Mitbegründer des Unternehmens war mit 76 Jahren aber nicht mehr für diese Arbeiten geeignet. – Auch die politische Lage verschlechtert sich täglich! – Ein kaum darzustellender Niedergang eines erfolgreichen Unternehmerlebens mit Demütigungen und Entbehrungen, die sich mit dem Tod seiner Ehefrau Esther am 14. Juli 1940 fortsetzte; sie wurde auf dem jüdischen Teil des Pragfriedhofs bestattet.
Die Immobilie Olgastraße 75 wurde durch die Verfügung am 17.09.1940 „den Eigentümern entzogen u. beschlagnahmt (…) die Eigentümer haben ein Entgelt nicht erhalten.“ Ein Vermögensverwalter wurde eingesetzt. – Am 25.08.1940 fielen zum ersten Mal Bomben auf Gaisburg und Untertürkheim.
Kurz zuvor nahme Simon Tanne das Ehepaar Josef und Bella Wochenmark in sein Haus auf; für den Rabbiner und seine Frau die letzte frei gewählte Wohnung.
Im Januar 1942 folgte die Zwangsumsiedlung von Simon Tanne nach Bettenhausen und am Samstag, 22.8.1942, die Deportation (mit 900 Menschen) über Stuttgart – Killesberg – Nordbahnhof nach Theresienstadt. Von dort führte sein Leidensweg einen Monat später in das Vernichtungslager Maly Trostinec und weiter nach Treblinka, wo Simon Tanne ermordet wurde.
Sein Todestag wurde amtlich auf den Tag der Befreiung vom NS –Regime, auf 8. Mai 1945 festgelegt.
Das Schicksal der Kinder und deren Familien:
– Tochter Frieda, Hagen/Westf., Ehefrau von Moritz Rimpel kam ebenfalls in der Shoa um. Ihr Todestag wurde amtlich auf 31.12.1943 festgesetzt.
– Sohn Siegfried, wurde am 28.10.1938 nach Polen abgeschoben. Er konnte von dort die Auswanderung seiner Familie über Triest nach Palästina organisieren. – Seine Frau Clara aus Stuttgart (geb. Horwitz) mit den Kindern Vera Anita *06.08.1929, Wilhelm Raphael *20.08.31, Daniel *04.01.36, Hadassa *22.023.37 (staatenlos); – am 17.12.1941 wurde noch der Sohn Nehemiah geboren – trafen sich in Triest und retteten sich vor der Verfolgung nach Raanana/Palästina (ab 1948 Israel). Siegfried betätigte sich dort als Gemüsehändler.
Vorausschauend und als Grundlage für ihre neue Existenz wurden im August 1939 acht Umzugskisten von Samuels Frau in Stuttgart (Gesamtgewicht 6,29 to) nach Palästina durch Spedition Berr, Moering & Co verfrachtet. Sie wurden in Triest von der Gestapo abgefangen, 1942 nach Deutschland zurückgeführt und vom Auktionator Günkel in Stuttgart versteigert. Ein Großteil der Güter war in diesen drei Jahren durch unsachgemäße Lagerung verdorben! Z.B. war das Klavier durch Nässe unbrauchbar.
– Tochter Regina, Ehefrau von Josef Brücke, konnte sich rechtzeitig mit ihrer Familie der Verfolgung durch die Gestapo entziehen und ist auch nach Palästina ausgereist.
– Tochter Perlin, Ehefrau von (Chiel) Max Feldmann rettete sich mit ihrer Familie nach USA (gest. 04.02.1950).
– Sohn Max, ledig, Kaufmann mit deutschem Pass und wie sein Bruder Siegfried mit leitenden Aufgaben im väterlichen Unternehmen betraut, gelang die Flucht ebenfalls nach Palästina.
Das Ehepaar Josef und Bella Wochenmark hat seit September 2012 einen Gedenkstein vor dem Haus Olgastraße 75
Ein dritter Stolperstein erinnert ab dem 12. November 2013 an Simon Tanne.
Erklärungen:
(1) Rozniatow liegt ca. 53 Km nord-westlich von Lodz.
(2) In der Weberstraße wohnte auch auf gleichem Geschoß Chancy Tanne, Handelsmann, Wittwer, so das Adressbuch von 1902-04; möglicherweise Simons Vater.
(3) Von dem Anwesen sind keine Dokumente und Baupläne erhalten, auch das BOA konnte nicht feststellen, wann und durch wen das Haus erbaut wurde.
(4) Die Geschäftsbezeichnung lautete zeitweise auch „Großhandel in Kurz-, Weiß- und Wollwaren“. Auch Sohn Siegfried führte zeitweise eine Filiale für Kurzwarengroßhandel.
(5) Wenig bekannt ist, dass bereits 1923 „Ostjuden“ mit polnischem Pass aus Bayern ausgewiesen wurden!
(6) 1938 wohnten in Stuttgart 3596 jüdische Bürger, davon 373 Menschen mit polnischem Pass.
Recherche und Text: Gebhard Klehr, Stolperstein-Initiative Stuttgart-Mitte. Betreuung der Verlegeaktion durch Margot Weiss, Initiative S-West.
Quellen: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Landesarchiv Ludwigsburg, Stadtarchiv Stuttgart, Maria Zelzer „Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden“. Wikipedia.
Foto Simon Tanne: Yad Vashem
Spender/Pate: Gebhard Klehr, Stuttgart.