„…Im Sommer 1942 hatte die Jüdische Kultusvereinigung auf Weisung der Gestapo wieder die traurige Pflicht, Gemeindemitgliedern die Nachricht von der bevorstehenden Evakuierung zuzusenden. Die Betroffenen waren meist alte Leute… Am 22. August 1942 nahmen 939 alte Menschen im Sammellager auf dem Killesberg Abschied von der Heimat, wo sie gerne noch gestorben wären… (Anm.: Unter ihnen waren der 65jährige Julius Stein und seine 52jährige Ehefrau Sofie). Ein Handkoffer barg ihre Habe. Fünf Pfennige mussten sie für das Formular zahlen, auf dem die Beschlagnahme ihres gesamten Vermögens schwarz auf weiß stand. Nur 55 RM durften sie mitnehmen. Aber es kam nicht dazu; denn die Fahrkosten ins „Vorzugslager“ Theresienstadt betrugen 50 RM, und für ein Lebensmittelpaket, das ihnen mitgegeben werden sollte, aber ihnen nie ausgehändigt wurde, waren 5 RM zu zahlen…
…Von dem Stuttgarter Transport des Sommers 1942 überlebten nur vier Personen. Viele starben bald nach der Ankunft…, aber viele der alten Stuttgarter lebten weiter, viel zu lange für die Lagerverwaltung! So wurde Theresienstadt für viele zum „Wartesaal für Auschwitz“. Der letzte Transport dahin ging im Herbst 1944…“
Diese Schilderung aus dem Buch von Maria Zelzer „Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden“ beleuchtet das Schicksal des Ehepaars Julius und Sofie Stein, die diesem Transport angehört haben und die von etwa 1920 bis 1940 hier in der Ehrenhalde 4 gewohnt hatten:
Julius Stein war am 9.4.1877 in Nürnberg geboren worden und machte in den 1890er Jahren eine Ausbildung zum Kaufmann. Seine spätere Ehefrau Sofie geb. Uhlmann war deutlich jünger und am 30.9.1890 in München geboren worden. Nähere Hinweise über das frühe Leben der beiden gibt es nicht, doch muss Julius Stein bereits in jungen Jahren einige Zeit im Württembergischen gelebt haben, denn die LVA Württemberg stellte 1897 und von 1901 bis 1906 Quittungskarten für ihn aus.
Seit 1911 betrieb Julius Stein eine kleine Schürzen-, Kinder- und Bettwäschefabrik in der Tübinger Straße, dann in der Lindenstraße in Stuttgart. Er wohnte in diesen Jahren an wechselnden Stuttgarter Adressen. Im April 1915 wurde in München der einzige Sohn Ernst geboren (der 1936 nach Brasilien auswanderte), so dass zu vermuten ist, dass das junge Ehepaar in diesen Jahren in München lebte.
Etwa 1920 zog dann die kleine Familie nach Stuttgart in die Ehrenhalde 4, in ein stattliches Haus, das einige Jahre zuvor – wohl 1912 – erbaut worden war. Die kleine Fabrik in der Lindenstraße bestand noch bis 1930. Ab diesem Zeitpunkt betrieb Julius Stein von der Ehrenhalde 4 aus einen Tabakwarengroßhandel und übernahm daneben eine Reihe von Firmenvertretungen. Doch gingen ab 1934/35 (nach Äußerungen des Sohnes Ernst von 1963) die Verdienste aus dem Zigarrenvertrieb zunehmend zurück, weil zahlreiche Kunden (meist Mitglieder der jüdischen Gemeinde) auswanderten oder „ihn als Juden nicht mehr empfangen wollten oder durften“.
Das Ende der Firma kam 1938, als Julius Stein„aus Gründen der Rasse seinen Betrieb einstellen musste“.
Unmittelbar nach den Novemberpogromen („Reichskristallnacht“) wurde Julius Stein am 10. November 1938 mit zahlreichen anderen Stuttgarter Juden in „Schutzhaft“ genommen und ins KZ Dachau verbracht. Nach vier schlimmen Wochen kam er am 12. Dezember wieder frei.
Gegen Ende 1939 / Anfang 1940 musste das Ehepaar STEIN die Wohnung in der Ehrenhalde 4 aufgeben, kam zunächst im „Judenhaus“ in der Johannesstraße 26 und schließlich in der Hospitalstraße 36 unter. Dort, bei der Jüdischen Kultusvereinigung Württemberg war Julius Stein in den letzten Monaten vor der Deportation als Buchhalter beschäftigt.
Und dann begann der letzte Teil der Tragödie des Lebens des Ehepaars Julius und Sofie Stein:
Mit Transport No. XIII/1 werden sie am 22. August 1942 auf Befehl der Gestapo Württemberg zusammen mit weiteren 937 Juden aus der Region Stuttgart nach Theresienstadt deportiert. Julius Stein stirbt im Lager am 3. Dezember 1943. Wir wissen nicht, ob er an einer Krankheit, etwa dem häufig auftretenden Typhus, starb, ob er erschlagen, erschossen oder anderswie umgebracht wurde. Frau Sofie blieb noch bis Mai 1944 in Theresienstadt, bis sie dann am 16. Mai 1944 zusammen mit 2.500 anderen jüdischen Opfern mit Transport Ea 563 nach Auschwitz „überstellt“ wurde. Dieser Transport gilt als sog. Todestransport, da die in Auschwitz eintreffenden Menschen sofort in die Gaskammern geschickt wurden.
Vom Transport Ea 563 wurden fünf Überlebende ermittelt. Sofie Stein war nicht darunter…
So weist hier an der Ehrenhalde 4 heute nichts mehr auf das Ehepaar Sofie und Julius Stein hin. Deshalb sollen in der Zukunft zwei „Stolpersteine“ an das Schicksal dieser Menschen erinnern.
Recherche und Text: Dr. Helmut Rannacher, 08.10.2010, Initiative Stolperteine Stuttgart-Nord.