Ein ‘Stolperstein’ als Gedenkstein für Viktor Epstein – seligen Angedenkens.
Zur Erinnerung an Viktor Epstein wurde am 19. Mai 2009 ein Stolperstein in den Bürgersteig vor dem Haus Johannesstraße 19, Stuttgart-West, gesetzt.
Auf den Weg gebracht wurde dieser Gedenkstein von Frau Rechtsanwältin Ellen Stimler, der Enkeltochter Viktor Epsteins, die 1919 in Stuttgart als Dora Sander geboren wurde. Unter besonderer Mithilfe ihres “alten” Jugendfreundes, des schwäbischen Kunstmalers Thomas F. Naegele, konnte diese Erinnerungsarbeit als lebendige Geschichte zusammengetragen werden. “Seine große Schwester”, wie er Dora Sander seit ihren gemeinsamen Stuttgarter Nachbarschaftsjahren liebevoll nennt, flüchtete mit ihm 1938 nach England, ehe sie sich 1940 und jeder auf seine Weise in den USA niederließen.
Die Erdgeschoss-Wohnung im Haus Johannesstr. 19 in Stuttgart-West war 1939 der letzte freiwillig gewählte Wohnort von Viktor Epstein. Die Bausubstanz des Hauses ist bis heute erhalten geblieben.
Mögen die so genannten Stolpersteine, einmal in den Gehweg gesetzt, auf diese Weise Erinnerungsarbeit für die Opfer des Nationalsozialismus in der Tat auf den Weg bringen. Dafür ist der kleine Gedenkstein, auf dessen Messingplatte die biographischen Daten des Opfers eingeprägt sind, Motiv und bescheidenes Zeugnis zugleich – vor dem Wohnhaus des nach staatlichem Urteil ermordeten Bürgers.
Viktor Epstein, seit 1935 verwitwet, wohnte 1939 nur für eine kurze Zeit mit der Familie seiner Tochter Alice Amalie Sander in der Johannesstraße 19, bevor er nach behördlicher Anordnung der nationalsozialistischen Machthaber in das Altersheim der Israelitischen Gemeinde in der Heidehofstraße 9 zwangsweise eingewiesen wurde.
Weil er Jude war, wurde Viktor Epstein 1942 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort nach deutschem Urteil, dass das jüdische Volk nicht auf der Erde leben soll, ermordet. Dass die staatlich organisierten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die die Nationalsozialisten seit 1933 gegen Juden öffentlich praktizierten, einmal in das Verbrechen gegen die Menschheit führen wird, wurde auch 1939 noch nicht erahnt.
So glaubte die Familie Sander noch daran, dass das Jüdische Altersheim ihrem Großvater Viktor Epstein ein noch gesichertes Dasein bieten könnte. Er wollte hier die gewagte Auswanderung seiner Kinder abwarten bis sie im Ausland auf eigenen Füssen stehen, ehe auch er sich ihnen in Freiheit, möglicherweise in den USA, anschließen kann. Sein Sohn Siegfried (Friedel) Epstein hatte diesen Schritt schon 1909 mit jugendlichen 18 Jahren gewagt, allerdings ganz freiwillig. Viktor Epstein wollte seinen Kindern wegen der Ausreise nicht zur Last fallen. Er aber drängte sie Anfang 1939 zur Flucht. Denn die Ausgrenzungen und antisemitischen Überfälle von 1938 sind ihnen ganz gegenwärtig, und unerträglich geworden:
Alle deutschen Reisepässe von Juden werden eingezogen, jüdische Rechtsanwälte und Ärzte erhalten Berufsverbot, die Synagoge in Stuttgart und die Synagoge in Cannstatt werden mit behördlicher Duldung in Brand gesteckt und zerstört, Bürger jüdischen Glaubens wird untersagt an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, die letzten jüdischen Firmen werden „arisiert“/enteignet. Enteignung und Verhaftung im Anschluss an die Reichspogromnacht trafen am 11. November 1938 auch den Schwiegersohn Viktor Epsteins: Rudolf Sander – er heiratete am 9. Juli 1918 seine Jugendfreundin Alice Amalie Epstein während eines Fronturlaubs, legte dann seinen ursprünglichen Familiennamen Levi ab, kehrte 1919 als entlassener Kriegsgefangener des 1. Weltkriegs zu seiner Familie nach Stuttgart zurück, und schloss seine inzwischen am 16. April 1919 geborene Tochter Dora in sein Herz. Rudolf Sander führte nun in der Gartenstraße 15 (heute: Fritz-Elsas-Straße) die väterliche Lithographische Druckerei mit seinem Schwiegervater Viktor Epstein, der ihn als Prokurist unterstützte, umsorgt von Doras Mutter Alice Amalie Sander und Doras Großmutter Klara Epstein geb. Heß.
Als Rudolf Sander Anfang 1939 gedemütigt und gezeichnet aus dem KZ-Lager Dachau nach Stuttgart zurückkehrte, konnte nur noch die Flucht vor Verfolgung und vor kommende Gewalttaten helfen. Nachdem Viktor Epstein mit nun 80 Jahren seine Tochter noch einmal ermutigte, Deutschland ohne ihn zu verlassen, flüchtete Alice Sander mit ihrer Familie (Ehemann Rudolf Sander und ihren Söhnen Lothar und Frank Sander) im März 1939 vor der lebensbedrohlichen Judenverfolgung nach England und folgte so ihrer nun bald 20-jährigen Tochter. Dora Sander, die sich seit 1937 als Abiturientin des Stuttgarter Mädchengymnasiums (das heutige Hölderlin-Gymnasium) in England aufhielt, hatte Stuttgart nach einem kurzen Familienbesuch bereits im September 1938 fluchtartig verlassen – gemeinsam mit ihrem fünf Jahre jüngeren Jugendfreund Thomas F. Naegele (JG 1924), der in seinen Erinnerungen schreibt:
„…um Mitternacht ging die Reise über Köln nach Vlissingen aufs Boot hinüber nach Harwich, und von dort weiter…“.
Das letzte bei Dora Sander/Ellen Stimler in den USA liegende Lebenszeichen ihres lieben Großvaters Viktor Epstein ist aus einer am 26. Oktober 1941 geschriebenen Postkarte seines Neffen Alfred Frankfurter mit folgendem Text zu entnehmen:
„Wir waren gestern bei Onkel, dem es den Umständen entsprechend gut geht. Er ist zwar nicht entzückt davon, dass das Heim (das jüdische Altersheim in der Heidehofstr. 9) bald nach Eschenau bei Öhringen umsiedelt, aber da seine treue Pflegerin, Frau Kirchheimer, ja auch mitgeht, so wird er sich auch dort eingewöhnen. Das für das Heim bestimmte Gebäude, ein früheres „Schloss“, ist sehr anständig, und es wird alles getan um die alten Leute gut zu versorgen.“
Alfred Frankfurter, am 11. Dezember 1877 geborener Sohn von Elias Frankfurter und Jeanette Frankfurter geb. Heß, kümmerte sich in dieser Zeit um seinen Onkel Viktor Epstein. Alfreds Tante Klara Epstein geb. Heß, die 1935 nach langer Krankheit verstarb, war die Schwester seiner Mutter Jeanette Frankfurter.
Viktor Epstein und Alfred Frankfurter waren seit dem 19. September 1941 verpflichtet, den Judenstern zu tragen. Alfred Frankfurter, der von Beruf Vertreter war, wohnte in Stuttgart 1939 und 1940 in der Hackstr. 82, 1941 in der Silcherstr. 7 und 1942 in der Nußklinge 5. Danach verlieren sich seine Wege.
Am 8. September 2008 erreichte uns die Frage von Ellen Stimler aus New York: „Do we know where Viktor died?“
Viktor Epstein, zwangsweise im Altersheim der Israelitischen Gemeinde in Stuttgart (Heidehofstraße 9) festgehalten, wurde am 4. März 1942 unter Vortäuschung falscher Tatsachen in das Schloss Dellmensingen bei Ulm abgeschoben. Dort war er bis zum 19. August 1942 eingesperrt – namentlich einer Liste über die „Insassen des jüdischen Wohnheims Dellmensingen für die Zeit vom 28.2. bis 1.9.1942“. Offensichtlich wurde Viktor Epstein nicht nach Eschenau bei Öhringen/Heilbronn „umgesiedelt“, wie Alfred Frankfurter vermutet hatte.
Rosa Sara Kirchheimer ist aber in das Schloss Eschenau am 5. Januar 1942 zwangsweise „umgesiedelt“ worden – namentlich einer Liste über die „Insassen des jüdischen Altersheim in Eschenau“.
Oberlandesgerichtsrat Alfred Marx, der selbst noch am 18. Februar 1945 in das KZ-Lager Theresienstadt eingeliefert worden war, schreibt am 5. Januar 1948 dem Landratsamt Ulm:
„Betr.: KZ-Lager D e l l m e n s i n g e n“
„…Es ist Ihnen sicher bekannt, dass in der Zeit vom Winter 1941 bis zum 22. August 1942 Dellmensingen ein so genanntes Wohnheim für Juden war, die vorwiegend aus Stuttgart zwangsweise ausgesiedelt wurden und bis zu ihrer Deportation nach Theresienstadt im Schloss Dellmensingen unter Entziehung der persönlichen Freiheit – sie durften nicht einmal den Ort Dellmensingen betreten – kaserniert waren. …“
Viktor Epstein wurde dann ein zweites Mal unter Vortäuschung falscher Tatsachen am 19. August 1942 von Dellmensingen nach Stuttgart „verschubt“ und dort drei Tage lang festgehalten, um danach vom Stuttgarter Killesberg aus am 22. August 1942 in das KZ-Lager Theresienstadt deportiert zu werden.
Das Theresienstädter Gedenkbuch über die Opfer der Judentransporte aus Deutschland nach Theresienstadt stellt fest, dass Viktor Epstein mit dem Stuttgarter Transport XIII/1 am 23. August 1942 (mit 1078 anderen Juden) in dem KZ-Lager Theresienstadt ankam. Von dort aus wurde er in das Vernichtungslager Treblinka deportiert – nämlich am 23. September 1942 mit anderen Juden unter der Transportbezeichnung „Bq“.
Viktor Epstein starb dort in der Shoa.
Den Stuttgarter Jugendfreunden Dora Sander/Ellen Stimler und Thomas F. Naegele haben wir mitgeteilt, dass Doras Großvater Viktor Epstein und Thomas’ Großmutter Helene Nördlinger mit demselben Transport am 22. August 1942 von Stuttgart aus in das KZ-Lager Theresienstadt verschleppt worden sind und dass auch Helene Nördlinger in das Vernichtungslager Treblinka deportiert wurde – am 29. September 1942, sechs Tage später als Viktor Epstein.
Helene Nördlinger starb dort in der Shoa.
Rosa Kirchheimer, die treue Pflegerin Viktor Epsteins, befand sich auch in demselben Stuttgarter Transport XIII/1, der am 23. August 1942 in dem KZ-Lager Theresienstadt ankam. Sie wurde befreit und konnte am 5. Februar 1945 in die Schweiz fahren.
Viktor Epstein kam, aus jüdischem Bürgertum stammend, am 10. Februar 1859 in Eichstetten am Kaiserstuhl in Baden zur Welt – 10 km von der französischen Grenze entfernt. Auch seine Eltern waren Eichstettener. Sein Vater Salomon Epstein war Kaufmann, seine Mutter Sara Epstein stammte aus der jüdischen Familie Kleefeld.
Mit 28 Jahren heiratete Viktor Epstein seine jüdische Freundin Klara Heß, die am 10. Dezember 1863 in Stuttgart geboren wurde. Deren Eltern, Kaufmann Eduard Heß und Amalie Heß geb. Hirsch, stammen ebenfalls von jüdischen Familien ab.
Das Ehepaar Klara Epstein geborene Heß und Viktor Epstein bekam in Stuttgart vier Kinder, von denen das erste Kind, eine Tochter, bei der Geburt starb und das vierte Kind Arthur starb einen Monat nach seiner Geburt am 12. Juni 1893.
Tochter Alice Amalie Epstein, das zweite Kind, wurde am 24. Dezember 1889 geboren. Sie erhielt, ganz in jüdischer Tradition, den zweiten Vornamen von ihrer Großmutter Amalie Heß geb. Hirsch.
Das dritte Kind, Siegfried Epstein, wurde am 23. März 1891 geboren. Mit 18 Jahren suchte Siegfried, mit Kosename Friedel, sein Glück in den USA. Er heiratete dort und lebte ein bescheidenes Leben in New York, schließlich als Offizier der Heilsarmee.
Alice Amalie Epstein heiratete am 9. Juli 1918 während des Ersten Weltkrieges ihren Jugendfreund Rudolf Levi in Stuttgart, der sich fortan Rudolf Sander nennt. Sie bekamen in Stuttgart drei Kinder: Die Tochter Dora Sander wurde am 16. April 1919 geboren und danach die beiden Söhne Lothar und Frank Sander, die alle ihr Glück in den USA fanden.
Von Frank Sander wissen wir, dass er Jura studierte und im Laufe der Zeit ein international geschätzter Harvard-Professor wurde. Auch nach seiner Emeritierung widmete er sich weiterhin dem Wesen des Rechts.
Dora Sander, mit heutigem Namen Ellen Stimler, begann 1937 als Stuttgarter Abiturientin in London ihr Jurastudium, setzte es dann in New York fort und schloss es sehr erfolgreich als Juristin ab. Über Jahrzehnte hinweg widmete sie sich ihrer beruflichen Aufgabe und erwarb sich in den USA ein hohes Ansehen als Anwältin des Rechts.
Sie schildert in einem Brief ihre Erinnerung an den Großvater Viktor Epstein während ihrer Stuttgarter Schulzeit, als ihre Großeltern noch in der Hölderlinstraße 51 (von 1914 bis 1931) im ersten Stock wohnten. Von dem Mädchengymnasium (dem heutigen Hölderlin-Gymnasium) in der Hölderlinstraße 28 waren es nur ein paar Minuten zu Fuß, um die Großeltern zu besuchen. Das ging über drei Jahre hinweg von 1929 bis 1931, vom ersten bis zum dritten Schuljahr im Gymnasium. Fast täglich schaute sie bei ihnen vorbei, auf dem Heimweg zur Johannesstraße 19, wo sie mit ihren Eltern und Brüdern lebte.
Ellen Stimler schreibt am 24. April 2009:
„Viktor nahm regen Anteil an meinen Schulsorgen und Freuden und lobte meine Leistungen, mit allerlei Erfrischungen. Großmutter Klara, geborene Heß, war damals zunehmend leidend und lag zu Bett bis zu ihrem Tode 1935, wonach Großvater als Witwer mehrmals die Wohnung wechselte [Anmerkung des Autors: 1932 zogen Viktor und Klara Epstein in den 3. Stock der Ludwigstraße 128. Nach dem Tod seiner Frau wohnte Viktor Epstein hier noch bis 1938]. Ursprünglich Eigentümer einer gut gehenden Leder-Großhandlung, hatte Viktor dann während der Inflation, die im Gefolge des 1. Weltkriegs auftrat, Firma und Existenz verloren. Aber bis etwa 1904 liefen seine Geschäfte gut, sodass er sich damals mit 45 Jahren aus dem beruflichen Leben zurückzog, viele Reisen unternahm und dann sehr oft seine Tochter Alice Amalie mitnahm.“
Mai 2009
Recherche, Text und Fotos: Willi-Gert Heils,
Initiative Stolpersteine Stuttgart-West,
Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Stuttgart e.V.
Quellen:
– Stadtarchiv Stuttgart
– Hauptstaatsarchiv Stuttgart und Staatsarchiv Ludwigsburg
– Standesamt Stuttgart
– THERESIENSTÄDTER GEDENKBUCH. Die Opfer der Judentransporte aus Deutschland nach Theresienstadt 1942 – 1945, Prag 2000
– Schriftverkehr und Gespräche mit Ellen Stimler und Thomas F. Naegele (New York)