Tulpenstraße 14. Hier wohnte seit 1937 die dreiköpfige Familie Lax. Der Vater Arthur Lax, 43 Jahre alt, geboren in Wien, Vertreter, seine Frau Edith geb. Bickart aus Braunschweig, 32 Jahre alt, und das Töchterchen Ruth, geboren am 6. September 1936, noch in der früheren Wohnung Olgastraße 131, wo Arthur Lax seit 1926 bei seinen Eltern gewohnt hatte.
Bald nach ihrem zweiten Geburtstag verliert Ruth ihren Vater. Er ist nach den Vereinigten Staaten ausgewandert, mit der Absicht, Frau und Tochter später nachkommen zu lassen. Was Arthur Lax bewogen hat, im Dezember 1938 allein auszuwandern, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Wahrscheinlich besteht ein Zusammenhang mit der Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938, als im ganzen Deutschen Reich Synagogen und jüdische Geschäfte zerstört und etwa 30000 jüdische Männer in Konzentrationslager eingeliefert worden sind. Die meisten von ihnen wurden im Dezember 1938 wieder entlassen, viele waren misshandelt worden. Sie mussten eine Erklärung unterschreiben, dass sie über die Zeit im KZ Stillschweigen bewahren und so bald wie möglich auswandern würden. Das könnte die plötzliche Emigration von Arthur Lax erklären, die ja wie eine Flucht anmutet.
Dafür, dass die ersehnten Visa für Frau und Kind nicht eintreffen, weder 1939 noch 1940 noch 1941, finden sich in den Archivunterlagen keine Anhaltspunkte. Im Laufe des Jahres 1939 gibt Edith Lax die Wohnung in der Tulpenstraße auf und zieht zu ihrer verwitweten Mutter beim Hegelplatz, wo sich ganz in der Nähe auch der “Judenladen” befindet, das einzige Geschäft, in dem die Juden aus ganz Stuttgart, nachmittags zwischen vier und fünf Uhr einkaufen dürfen.
Am 20. November 1941 erhält Frau Lax ein Schreiben der jüdischen Kultusvereinigung Württemberg, das so beginnt: “Auf Anordnung der Geheimen Staatspolizei haben wir Sie davon zu verständigen, dass Sie und ihr oben bezeichnetes Kind zu einem Evakuierungstransport nach dem Osten eingeteilt sind. Sie haben sich ab Mittwoch, dem 26.11. in Ihrer jetzigen Unterkunft bereit zu halten.” Dann folgen weitere Anordnungen der Gestapo: In den Zug darf nur leichtes Gepäck mitgenommen werden; pro Person ein bis zwei Koffer, sowie ein bis zwei Wolldecken, für jeweils zwei Personen eine Matratze, ferner Eimer, Schaufeln, Sägen, Werkzeug, Kochkessel, Öfen, Nähmaschinen, denn – so die Gestapo- “im Siedlungsgebiet ist nicht das geringste Material sowohl zum Aufbau als auch zur Lebenshaltung vorhanden.”
So werden von 26. bis 30. November 1941 auf dem Killesberg rund tausend jüdische Männer, Frauen und Kinder, manche noch kleiner als die fünfjährige Ruth Lax, aus Stuttgart und dem übrigen Württemberg konzentriert. Die Stadt Stuttgart, ließ damals einen Film drehen, der auch den Koffer von Ruth Lax zeigt, und uns einen Eindruck vermittelt, von dem, was damals, vor mehr als 60 Jahren geschehen ist.
In den Morgenstunden des 1. Dezember 1941 beginnt die Deportation. Frau Hannelore Marx, 83, eine der wenigen Überlebenden dieses Deportationszugs nach Riga erzählte vor kurzem bei einem Besuch in Stuttgart, dass ein Teil der Deportierten auf LKWs zum Nordbahnhof gefahren worden sei, während die anderen in einer langen Kolonne über den Eckardtshaldenweg, vorbei an der St. Georgskirche, dem Krematorium und der Martinskirche zum Nordbahnhof laufen mussten. Der Zug mit alten Abteilwagen, Türen und Fenster wurden verriegelt, die Toiletten waren bald verstopft und zugefroren, erreicht nach drei Tagen und drei Nächten einen Vorortbahnhof von Riga, der Hauptstadt Lettlands. In Riga wurden nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Juli 1941 30 000 Juden auf engstem
Raum zusammengedrängt. Da dieses Ghetto nun aus Deutschland deportierte Juden aufnehmen soll, wurden am 29.November, die Württemberger Juden waren noch auf dem Killesberg, 15 000 Rigaer Juden in den umgebenden Wäldern erschossen. Am selben Tag kommt ein Transport mit 1036 Juden aus Berlin an. Da das Ghetto noch nicht geräumt ist, werden sie auf einem Nebengleis in einen Wald gefahren und dort ebenfalls erschossen.
Die Juden aus Stuttgart werden – unter Geschrei und Schlägen der meist lettischen Bewacher – zu einem anderthalb Kilometer entfernten Flugplatz getrieben. Dort stehen Baracken mit schadhaften Dächern und Fenstern ohne Scheiben, bei 20 bis 30 Grad minus. Die beißende Kälte, der quälende Hunger machen die Menschen krank und apathisch: “Sie starben wie die Fliegen”, berichtet ein Überlebender. Doch den Befehlshabern geht der Tod durch Erfrieren, Hunger und Seuchen nicht schnell genug. Immer wieder finden Massenerschießungen in den Wäldern um Riga statt. Einer solchen Aktion fällt auch Edith Lax mit ihrer Mutter und ihrer Tochter zum Opfer. Am 26.März 1942 fahren Busse und LKWs vor, um Frauen und Kinder angeblich in eine Konservenfabrik mit besseren Unterkunfts- und Arbeitsbedingungen zu bringen Die Fahrzeuge biegen aber von der Hauptstraße ab in den Wald von Bikernieki. Dort sind große Gruben ausgehoben. Die Menschen müssen aussteigen, die Oberbekleidung ausziehen, sich in Gruppen dorthin begeben, wo ununterbrochen geschossen wird, dann stehen sie am Rand einer schon mit Leichen gefüllten Grube. Unter den ungefähr 1 500 Toten dieses Tages ist auch die kleine Ruth Lax. Ihren Todesschützen kennen wir nicht, ob ein Lette oder ein Deutscher in feldgrauer Uniform, wissen wir nicht.
Vor einem Hamburger Gericht machte Friedrich M., Angehöriger eines Polizeibataillons, 1962 folgende Aussage:
“Ich habe mich bemüht, nur Kinder zu erschießen. Es ging so vor sich, dass die Mütter die Kinder an der Hand führten. Mein Nachbar erschoss dann die Mütter und ich das dazugehörige Kind, weil ich mir sagte, dass das Kind ohne seine Mutter doch nicht mehr leben könnte. Es sollte gewissermaßen eine Gewissensberuhigung für mich selber sein, die ohne ihre Mutter nicht mehr lebensfähigen Kinder zu erlösen.”
Initiative Stolpersteine Stuttgart-Süd.
Franz Schönleber, der die Geschichte der Familie Lax recherchiert hat, und die “Paten” Bettina Veith und Susanne Melin, die die Steine für Ruth und Edith Lax gestiftet haben, am 23. September 2005 (Tag der Verlegung) vor dem Haus in der Tulpenstraße 14.
Ausführlich berichtet Franz Schönleber über die Geschichte von Ruth Lax und ihrer Tochter in dem im Herbst im Markstein-Verlag erschienenen Buch “Stuttgarter Stolpersteine- Spuren vergessener Nachbarn“. Dort findet sich auch ein Verzeichnis der Quellen zur Geschichte von Ruth und Edith Lax.
Literatur: Kataloge zu Ausstellungen des Bundesarchivs, Bd. 27, Ruth “Sara” Lax, 5 Jahre alt, deportiert nach Riga. Deportation und Vernichtung badischer und württembergischer Juden – Eine Wanderausstellung des Bundesarchivs – Außenstelle Ludwigsburg, des Staatsarchivs Ludwigsburg und des Stadtarchivs Ludwigsburg (Hrsg.),2002, 92 S., 5,00
Fotos: Jörg Munder