Der Rassenwahn des Nationalsozialismus zeigte sich in seiner Grausamkeit besonders auch gegenüber den alten Menschen jüdischen Glaubens. Ohne Achtung vor dem Alter zwang man sie aus ihren Behausungen und sammelte sie in jüdischen Häusern oder Altersheimen in Stuttgart und in Landgemeinden. Die Deportation erfolgte dann nach Theresienstadt, das “Vorzugslager”, besser als “Wartesaal für Auschwitz” zu bezeichnen. Diejenigen, die hier in Theresienstadt nicht schon durch Hunger und menschenunwürdige Unterbringung starben, wurden weiter deportiert in die Vernichtungslager.
Sigmunde Friedmann wurde am12.7.1872 in Fürth geboren als Tochter des Fabrikbesitzers Max Schweizer und seiner Frau Klara, geb. Seckstein.
Sie (Foto Friedmann: Staatsarchiv Ludwigsburg) heiratete am 8.7.1894 in Fürth den Stuttgarter Kaufmann Albert Friedmann. Alberts neun Jahre älterer Bruder Siegfried hatte 1882 ein Weiß- und Wollwarengeschäft in Stuttgart in der Eberhardstraße 65 begründet, das sich schnell zum Fabrikationsbetrieb entwickelte, zuerst mit Sitz in der Paulinenstraße 19, dann ab 1892 in der Kurze Straße 4, der heutigen Feinstraße, im Stuttgarter Süden, dort im Parterre und im Anbau. Von der alten Bebauung dieser Straße bei der Marienkirche existiert heute leider nichts mehr.
Seit 1892 war Albert Friedmann Teilhaber der Firma seines Bruders Siegfried und konnte nun 1894 mit der Heirat Sigmundes – im Familienkreis “Mundi” genannt – eine eigene Familie begründen. Als Junggeselle hatte er zusammen mit seiner Mutter, der Privatiers-Witwe Bertha Friedmann, in der Wilhelmstraße 8B gewohnt; mit Sigmunde zog er in die Olgastraße 75, bis 1902 die Familie in das Firmengebäude Kurze Straße 4 umzog. Hier in der Wohnung im 3. Stock hatten Sigmunde und Albert ihre längste gemeinsame und sicher auch glücklichste Zeit, von 1902 bis zum Tod Alberts 1931. Hier wuchsen ihre beiden Töchter auf: Else, geb. 1897 und Claire, geb. 1900.
Ab dem 1. Juli 1903 befand sich die “Schürzen- und Wäschefabrik, Teilh. Siegfried und Albert Friedmann2” in der Adlerstraße 16 in Heslach, im heute noch erhaltenen stattlichen Gebäude. Eine heute 86-Jährige, die gegenüber aufwuchs, erinnert sich, dass ihre Mutter als Direktrice Anfang der zwanziger Jahre in der Firma Friedmann gearbeitet habe.
1905 starb Siegfried, 1910 die Mutter Bertha Friedmann, geb. Pflaum. Sie wurde hochgeehrt und mit einer Grabrede von Rabbiner Kirchenrat Dr. Kroner bedacht im israelitischen Teil des Pragfriedhof zu Grabe getragen, so wie ihr Mann David und ihr ältester Sohn Siegfried zuvor. Die Leichenpredigt ist heute noch in der Landesbibliothek nachzulesen – Friedmanns waren hochgeachtete Stuttgarter Bürger!
1931 (16.2.) starb auch Albert Friedmann “infolge eines Herzschlages im Alter von 67 Jahren”, wie es seine Witwe Sigmunde im Stuttgarter Neuen Tagblatt anzeigt.
Der Schwiegersohn Manfred Nussbaum, Ehemann der Tochter Claire, versuchte die Firma weiterzuführen, doch die Liquidation der 1882 im Handelsregister eingetragenen Firma Siegfried Friedmann war nicht mehr aufzuhalten in dieser Zeit der antijüdischen Maßnahmen. 1935 war die einst so angesehene Firma erloschen.
Das Grundstück Adlerstraße 16 war noch im Besitz der beiden Schwägerinnen Sigmunde und Sidonie, Siegfrieds Ehefrau. Sie verkauften es im Jahr 1936 und teilten sich den Erlös.
Sigmunde fühlte sich nach dem Tod ihres Mannes Albert 1931 in der Sechs-Zimmer-Wohnung, Kurze Straße 4, sehr einsam. Sie verbrachte nun den größten Teil des Tages bei der Familie der Tochter Claire Nussbaum in der Erdgeschoss-Wohnung des Hauses Hohenstaufenstraße 17 A, wo sie auch durch ihre beiden Enkelkinder (geb. 1924 und 1928) mehr Ablenkung fand. Sie verbrachte hier ihre letzten selbstbestimmten Jahre, da ist es gleichgültig, ob sie nach der Auskunft der Tochter Claire 1964 nie richtig bei ihr gewohnt und nur der Einfachheit halber ihre und ihres Mannes Adresse angegeben hat oder ob sie bis 1937 tatsächlich dort wohnte.
Die Fabrikantenwitwe Sigmunde Friedmann musste alle Stufen von Entrechtung und Raub ihres Vermögens erleben: die Judenvermögensabgabe von 25%, zu zahlen in fünf Teilbeträgen in der Zeit von Dezember 1938 bis November 1939, Entziehung des Bankkontos, Beschlagnahmung der Wertsachen (z.B. Schmuck), Zwangsveräußerung von Möbeln und Haushaltsgegenständen wie Wäsche und Porzellan …
Schließlich blieb ihr, von 1938 bis 1939, ein möbliertes Zimmer in der Alexanderstraße 153 bei dem jüdischen Rechtsanwalt Dr. Erlanger und seiner Frau, die wie sie aus Fürth stammte.
Letzte Bleibe in Stuttgart von 1940 bis 1941 war das Haus der jüdischen Fabrikantenwitwe Johanna Gutmann: Am Kräherwald 197.
Im Februar 1942 kam die Zwangsumsiedlung ins Schloss Weißenstein auf der Alb östlich von Göppingen. Ein Flügel des Schlosses war im Spätherbst 1941 für alte und nicht mehr arbeitsfähige Juden als “Altersheim” eingerichtet worden. Sie lebten hier eng zusammengedrängt und durften sich nur im Schlosshof und auf einem kleinen Spazierweg vor dem Schloss frei bewegen. Es war nur eine Stufe im Plan der Endlösung. Sigmunde erlebte hier ihren 70. Geburtstag. Die Tochter Claire, die 1939 mit der Familie nach USA emigrieren konnte, erhielt über das Rote Kreuz noch einen Brief vom 13.8.1942. Er ist das letzte Lebenszeichen der Mutter.
Nur eine Woche später wurden die alten Menschen ins Sammellager auf dem Killesberg verfrachtet. Hier in den Nächten vor dem Transport nach Theresienstadt am 22.August 1942 spielten sich schreckliche Szenen ab: Schwerkranke lagen auf dem Boden, manche hatten den Verstand verloren, mindestens acht Menschen starben. “Eine Nacht des Wahnsinns und des Grausens … Elfhundert Menschen, die meisten über 65 Jahre alt …”, schreibt eine Überlebende.
Vom Inneren Nordbahnhof aus ging die Fahrt nach Theresienstadt, der Zug kam am 23.August dort an. Sigmunde Friedmann hielt in den katastrophalen Verhältnissen des Lagers fast zwei Jahre lang durch.
Sigmunde Friedmann starb in Theresienstadt am 5. April 1944 im 72. Lebensjahr.
An Sigmunde Friedmann erinnert ein StolperKunst-Clip des Künstlers Hans-Jürgen Trinkner für den ihr Urenkel Donald Isler die Musik komponiert hat. Den Clip finden Sie hier.
Im Rahmen des Projektes „Frage-Zeichen – Jugendliche im Gespräch mit Zeitzeuginnen des Nationalsozialismus“ wurde 2014 ein Film mit Charlotte Isler, der Enkelin von Sigmunde Friedmann produziert. Den Film finden Sie hier.
Im Jahr 2016 wurde dann in den USA ein Film mit Ernsst Nussbaum, Enkel von Sigmunde Friedmann und Bruder von Charlotte Isler produziert. Den Film finden Sie hier.
Recherche und Text: 2008 / Irma Glaub, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Süd.
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg, Stadtarchiv Stuttgart.