Menü Schließen

Berta Sichel und Ada Gabriella Rothschild, Lenzhalde 84

1916 war das wenige Jahre zuvor erbaute Haus Lenzhalde 84 von dem Fabrikanten Moritz Sichel erworben worden.  Er betrieb in der Tübinger Straße die Firma Badenia Separator, einen Molkereimaschinenhandel.  Seine Frau Berta Sichel (geb. am 1.Juni 1872) kümmerte sich um die drei Kinder und den Haushalt.  Sie führte hier in der Lenzhalde ein “vornehmes Haus”.  Nach dem Tod ihres Mannes 1926 übernahm sie die Leitung der Firma.
Seit Mitte der 30er Jahre, nachdem ihre Situation als Jüdin zunehmend schwieriger geworden war, vermietete Frau Sichel Teile des Hauses.  Zwei ihrer Kinder hatten Deutschland noch rechtzeitig verlassen können und waren ausgewandert.  Ende 1938 sah sich Frau Sichel gezwungen, das Haus (für 50.000 RM) zu verkaufen, nachdem Juden ihren Grundbesitz “abstoßen” mussten.  Wenigstens konnte Frau Sichel zunächst noch im Haus wohnen bleiben, allerdings wurden ab Anfang 1939 zahlreiche jüdische Familien und Einzelpersonen in die Lenzhalde 84 eingewiesen.  Diese wurden hier zusammengepfercht bis sie – zumeist Anfang der 40er Jahre – in ein Vernichtungslager deportiert wurden.
Unter ihnen war im Frühjahr 1940 auch die junge Ada Gabriella Rothschild – geb. am 22.1.1921 in München. Sie arbeitete von 1939 bis 1941 als Sekretärin in der Jüdischen Auswandererstelle für Württemberg und Hohenzollern in der (damaligen) Gartenstraße (heutige Fritz-Elsas-Straße).  Eine der wenigen Erinnerungen an das Leben dieser jungen Frau ist eine Szene in dem von den Nationalsozialisten gedrehten Propagandafilm über den “Judenladen” in der Seestraße 39.  Ada Rothschild ist zu sehen wie  sie den Laden betritt und dann an der Theke neben der Waage steht.  Am 26. April 1942 wurde die 20Jährige zusammen mit Hunderten anderer jüdischer Bürger aus der Region in das jüdische Ghetto Izbica südöstlich von Lublin/Polen deportiert.  Von dort schrieb sie noch einige Briefe, dann gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihr.
Das Lager Izbica war ab 1942 Durchgangsstation deportierter Juden in die Vernichtungslager des Holocaust, insbesondere nach Belzec und Sobibor.  Hier dürfte auch der Leidensweg der jungen Ada Rothschild sein Ende gefunden haben.
Berta Sichel wohnte auf immer enger werdendem Raum noch bis ins Frühjahr 1942 in der Lenzhalde 84.  Seit dem 19. September 1941 musste sie, wie alle Bewohner des Hauses, den so genannten Judenstern tragen.  Am 24. März 1942 wurde sie im Rahmen der “Landaussiedlung” der Juden zwangsweise in das “Jüdische Wohnheim” nach Tigerfeld bei Münsingen umgesiedelt, wobei sie nur das “Allernotwendigste” mitnehmen durfte. Einige Monate später, am 23. August 1942, wurde die knapp 70Jährige “von Gestapo Württemberg-Hohenzollern-Baden mit Transport XIII/1 nach Lager Theresienstadt deportiert”.  Dort ist sie nach Auskunft des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes am 21. April 1943 unter nicht bekannten Umständen verstorben.
Unmittelbar nach der Deportation war die Wohnungseinrichtung samt aller Wertsachen von der Gestapo beschlagnahmt worden.  Das “ziemlich erhebliche Vermögen verfiel an das Deutsche Reich”.  Dabei ist zu berücksichtigen, dass bereits vorher ein großer Teil des Barvermögens “abgeschöpft” worden war, zum einen durch Zahlung der Judenvermögens-abgabe die nach dem Attentat auf den deutschen Legationssekretär vom Rath (7.11.1938 in Paris) und den Novemberpogromen 1938 (“Reichskristallnacht”) den deutschen Juden auferlegt wurde.  Als “Sühneleistung” für die “feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk” mussten alle Juden mit einem Vermögen von über 5.000 RM zwanzig Prozent ihres Vermögens abführen.  Bis Ende November 1939 wurden auf diese Weise knapp 1,2 Milliarden RM “abgeschöpft”; zum anderen durch die Zahlung der Reichsfluchtsteuer.
Diese war bereits in der Weimarer Republik eingeführt worden, um die Kapitalflucht ins Ausland zu erschweren.  Bei Aufgabe des inländischen Wohnsitzes wurde das Vermögen besteuert, sofern dieses 200.000 RM (ab 1934: 50.000 RM) überstieg.  Der Steuersatz betrug immerhin 25 Prozent des Gesamtvermögens!  Im Dritten Reich traf die Reichsfluchtsteuer insbesondere auswandernde Juden. Hinzu kam noch der obligatorische  Heimeinkaufsvertrag.
Danach mussten deutsche Juden, die ab 1942 nach den Plänen der sog. Wannsee-Konferenz in ein “Altersghetto” deportiert werden sollten, auf Veranlassung der Gestapo mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland so genannte Heimeinkaufsverträge abschließen.  Darin wurde den älteren Juden die lebenslange kostenfreie Unterbringung,  Verpflegung und Krankenversorgung zugesagt.  Die vermögenderen jüdischen Bürger haben damit ihre Zwangsumsiedlung, Deportation und den Aufenthalt in Ghetto und Vernichtungslager noch selbst finanzieren müssen.
So ist am Ende nichts geblieben: Berta Sichel wurde zunächst um Hab und Gut gebracht und schließlich, wie auch Ada Rothschild, umgebracht.  Nichts erinnert mehr an das, was einmal war.  Die heute gesetzten “Stolpersteine” sollen den fast Vergessenen wieder einen Namen geben und uns Lebende mahnen!
 
Recherche & Text: Dr. Helmut Rannacher, Initiativkreis Stolpersteine Stuttgart-Nord, März 2008

Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg und Stadtarchiv Stuttgart.