Sana Dymschiz wurde 1880 in Dubrovno im heutigen Weißrussland geboren. Seine Frau Chassia, eine geborene Zuckermann, 1982 in Wilna. Anfang des 20. Jahrhundert wanderte das Paar – wie viele osteuropäische Juden – nach Deutschland aus. Die Entscheidung für die Auswanderung fiel, als Sana den Einberufungsbefehl zum Kriegsdienst in der russischen Armee bekommen hatte. Es ist die Zeit des russisch-japanischen Krieges. Chassia ist schwanger. Wie sollte die Existenz der jungen Familie gesichert werden, wenn der Mann für Jahre beim Militär verschwand? Sana, der ursprünglich Zametschek hieß, besorgt sich Ausreisepapiere auf den Namen Dymschiz und geht mit seiner Frau über die Grenze nach Berlin. Dort wird 1906 die Tochter Esther geboren.
Wenig später zieht die Familie weiter nach Stuttgart. 1909 wird Sana Dymschiz (als Haushaltsvorstand) erstmals im Stuttgarter Adressbuch aufgeführt, als Buchbinder, unter der Adresse Rosenstraße 8/1. Ein Jahr später schon wohnt die Familie in der Werderstraße 32/1 im Stuttgarter Osten, ab 1911 bis 1917 dann in der Werderstraße 26/1. Als Berufsbezeichnung steht jetzt “Zigarettenarbeiter” im Adressbuch. Vermutlich hat Sana in Emil Molts Waldorf-Zigarettenfabrik in der Hackstraße 9 Arbeit gefunden. Wenige Monate vor Beginn des Ersten Weltkriegs wird im März 1914 der Sohn Leon geboren. 1917 wohnt die Familie in der Seyfferstraße 94/3 in Stuttgart-West, zieht aber schon ein Jahr später wieder in den Stuttgarter Osten, in die Landhausstraße 198. Hier wird die Familie jetzt 17 Jahre wohnen. Im Adressbuch wird Sana Dymschiz ab diesem Jahr als „Maschinist“ aufgeführt. In den 17 Jahren, in denen die Familie dort wohnte, hatte das Haus sechs verschiedene Eigentümer. Ab 1931 gehört es dem Bäcker R. Metzger, der dort im Erdgeschoss auch eine Bäckerei betreibt. Vielerlei Mieter wohnen in diesen Jahren im Haus; als Berufe der Haushaltsvorstände findet man im Adressbuch Kaufmann, Oberregierungssekretär, Oberinspektor, Polizeirat, Gerichtsvollzieher, Bücherrevisor, Hausmeister, Goldarbeiter, Mechaniker, Stahlgraveur, Bäcker und Kirchendienerswitwe. In der Wohnung im 2. Stock gegenüber der Wohnung der Familie Dymschiz wohnt von 1916 bis 1934 die Familie des Ingenieurs Peter Weinand. 1928 wird der jüngste Sohn Oskar geboren. Ab demselben Jahr findet sich Sana Dymschiz im städtischen Adressbuch mit der Berufsangabe „Vertreter“. Er arbeitet nun als selbstständiger Handelsvertreter in der Textilbranche, vertritt die Textilfabrik ISCO von Julius Schmidt in der Haußmannstraße. Zur selben Zeit war die Zigarettenfabrik in der Hackstraße in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten; sie wurde an Reemtsma verkauft und wenig später geschlossen. Vermutlich war das der Hintergrund für die beruflichen Veränderungen.
Leon macht bei ISCO eine kaufmännische Lehre. Er steht, wie viele seiner Kollegen, der kommunistischen Bewegung nahe. Im Februar 1933 beteiligt er sich am so genannten Stuttgarter Kabelattentat, bei dem die Übertragung der Rundfunkrede Hitlers aus der Stadthalle durch zwei Axthiebe auf das Sendekabel abgebrochen wurde. Die Gestapo sucht in der Landhausstraße 198 nach ihm, kann ihn aber nicht finden. Später erzählt er seinen Kindern, wie geschockt er war, als nach 1933 viele Anhänger der Arbeiterbewegung im Betrieb zu glühenden Nazis wurden. Bei ISCO lernt Leon seine spätere Frau, Ruth Falkenstein, kennen. Ihr Vater, Louis Falkenstein, Schneider bei Breuninger, wohnte mit seiner Familie ebenfalls im Stuttgarter Osten, in der Sickstraße 33.
Nach der Machtergreifung der Nazis verschlechtert sich die finanzielle Lage der Familie. Die Aufträge für die noch in jüdischem Besitz befindliche Firma ISCO gehen zurück, damit auch die Provisionen des Handelsvertreters. 1936 zieht die Familie deshalb um in eine billigere Wohnung in der Talstraße 4. Die Wohnung dort gehört dem Bau- und Heimstättenwerk.
Im November 1938, nach der Pogromnacht, wird Sana Dymschiz wie viele Stuttgarter Juden verhaftet und kommt für einige Wochen ins KZ Dachau. Leon erzählt später, dass er als ein anderer Mann zurückgekommen war. Für ihn gibt es jetzt nur eines: die Flucht der Familie zu betreiben. Es gelingt ihm, seinen elfjährigen Bruder Oskar in dem Kindertransport unterzubringen, mit dem im Januar 1939 insgesamt 10.000 jüdische Kinder nach England ausreisen können, wo sie in Familien und Heimen aufgenommen werden. Oskar ist zwar in Sicherheit, doch es geht ihm nicht gut im fremden Land. Mit seiner Gastfamilie versteht er sich nicht, er leidet sehr unter der Trennung von den Eltern. Er beginnt eine Bäckerlehre, wird chronisch lungenkrank, zieht nach der Rückkehr aus dem Sanatorium zu seiner großen Schwester Esther nach Middlesborough. Diese konnte noch vor Kriegsbeginn als Kindermädchen nach England auswandern. Sie heiratet dort Julius Engländer, der aus der Nürnberger Gegend stammt.
Leon und Ruth selber wollen nach Palästina auswandern. Eine Voraussetzung für die Einwanderungserlaubnis ist die Teilnahme an einem Kurs in einer so genannten Hachschara-Stätte. Diese Ausbildungseinrichtungen waren 1936 vom jüdischen Pfadfinderbund Makkabi Hazair gegründet worden. Die Hachschara, das war die soziale, beruflich-praktische und kulturelle Vorbereitung junger Leute auf ein Leben im fernen Land Palästina. Deshalb ziehen die beiden nach Ellguth/Oberschlesien in die dortige Hachschara-Stätte und heiraten dort im Juni 1939. Noch nach Kriegsbeginn können sie über Wien nach Palästina fliehen. Ruths Mutter, Sophie Falkenstein, erklärt hierzu 1960: „Sie mussten dort schnell weg mit einem Handkofferle (…). Sie sind illegal fort, sonst wären sie überhaupt nicht mehr hinausgekommen.“
Zuvor noch versucht Leon, auch den Eltern zur Flucht zu verhelfen. Über einen Verwandten der Familie, den berühmten Geiger Jascha Haifetz, gelingt es ihm sogar, für sie ein Affidavit zu bekommen, eine Bürgschafterklärung von Freunden in den USA oder in England, die Grundlage war für eine Einwanderungserlaubnis. Doch die Nazis erkennen das Dokument nicht an, die Ausreise in letzter Minute gelingt nicht. 1939 müssen Sana und Chassia Dymschiz erneut umziehen – jetzt in die Kernerstraße 11. Dieser Umzug war nicht freiwillig. Diese Adresse war eines der so genannten „Judenhäuser“, in denen Stuttgarter Juden auf Anordnung der Nazibehörden zwangsweise zusammengepfercht, und aus ihrer bisherigen Nachbarschaft herausgerissen wurden. Der Sohn Leon erklärt später im Entschädigungsverfahren: „Meine Eltern haben damals in Stuttgart in der Kernerstr. 11 gewohnt. Sie hatten eine 4-Zimmer-Wohnung (…). In diese Wohnung sollen auch andere Leute eingemietet worden sein. “Zur selben Zeit werden alle jüdischen Stuttgarter – also auch Sana und Chassia Dymschiz – in den so genannten „Judenlisten“ registriert, um so mit bürokratischer Präzision die Deportationen vorzubereiten. Sana und Chassia Dymschiz „kommen nicht mehr hinaus“. In den letzten Novembertagen 1941 müssen sie sich im Sammellager auf dem Killesberg einfinden und werden von dort am 1.12.1941 zusammen mit rund tausend Juden nach Riga deportiert und dort kurz nach ihrer Ankunft ermordet. Das genaue Datum ist nicht bekannt, nach dem Krieg wurden sie auf den 1.12.1941 für tot erklärt.
Ihr Hausrat in der Kernerstraße 11 wird bei der Deportation von der Gestapo beschlagnahmt, zusammen mit der dort eingelagerten Wohnungseinrichtung von Leon und Ruth. Schon zuvor hatten die Eltern einen Pelz und ihr Radio zwangsweise abliefern müssen. 1960 erklärt Leon: „Zur Zeit der Zwangsablieferung unterhielten wir uns darüber, ob diese Wertgegenstände (ein Goldarmband und ein Brillantring) abgeliefert werden sollen, und es wurde beschlossen, diese als äußersten Rückhalt für besondere Umstände gut versteckt aufzubewahren. Nachdem wir z. Z. der Deportation nicht mehr in Deutschland anwesend waren, können wir über den Verbleib dieser beiden Wertgegenstände nichts Endgültiges aussagen, doch ist anzunehmen, dass diese entweder bei der Deportation in Stuttgart oder bei der Ermordung des Ehepaars Sana und Chassia Dymschiz der Gestapo anheim gefallen sind.
Wer diesen Schmuck heute wohl trägt?
Harald Stingele
Dieser Bericht beruht auf folgenden Quellen:
„Maria Zelzer: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden.“
Akten aus dem Entschädigungsverfahren im Staatsarchiv Ludwigsburg.
Stuttgarter Adressbücher ab 1909 im Stuttgarter Stadtarchiv.
Gespräche mit der Enkelin von Sana und Chassia Dymschiz.
Internetrecherche.
Für Chassia Dymschitz hat Eliana Hamilton ein Bild entwickelt und gedruckt. Das Bild ist entstanden im Rahmen des StolperKunst-Druckprojekts in der Druckwerkstatt Stuttgart-Ost. Mehr zu diesem Jugendkunst-Projekt sowie das Bild finden Sie hier.