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Fanny und Isaak Aufrichtig und Lotti Laser, Josef Hirn Platz 8/10

Isaak und Fanny AufrichtigFanny und Isaak Aufrichtig: eine unerschütterliche Liebe zur neuen schwäbischen Heimat
Unvorstellbar ist das Leid, welches auf die Welt 1933-1945 hernieder brach und unvorstellbar ist es zu erklären, wie schwer es ist, darüber zu berichten. Wie meine Familie, die in Liebe und Glück zusammengeschweißt war, auseinandergerissen wurde und letztendlich zum Verschwinden und zum Untergang in einer untergegangenen Welt geweiht war.
Umso mehr wird die Stolpersteine-Initiative hoch geschätzt mit ihrem Ziel, die Opfer aus der Vergessenheit zu erlösen und vor dem Unwissen der meisten Menschen zu schützen und an die zu erinnern, die nicht mehr hier sind, die unvorbereitet und viel zu früh aus dem Leben gerissen wurden, durch Gewalt Krimineller, die sich zum Regieren erhoben haben und 12 Jahre lang die Geschicke Europas bestimmten im Namen des deutschen Volkes. Und jetzt finden sich Menschen, die ihre Pflicht darin sehen, die Sprecher dieser Opfer zu sein, auf diese Art und Weise, die es ermöglicht, die Erinnerung lebendig zu erhalten und so gut es geht, sie ins Leben zu rufen, wenn man es so sagen darf. Auch in unseren Tagen gehört viel Mut dazu, dies zu tun, denn so wohl  wollend steht die breite Masse nicht zu diesem großen Werk, dass von Liebe und Großzügigkeit getragen wird.

Ich habe meine Großeltern Fanny und Isaak Aufrichtig nie persönlich erlebt. Meine Eltern wanderten bereits vor meiner Geburt nach Palästina aus, wo ich zur Welt kam. Um das Wesen meiner Großeltern auf dem damaligen jüdischen Hintergrund zu verdeutlichen, wiederhole ich hier Erzählungen meiner Mutter, wie ich sie als Kind gehört habe. So habe ich auch das „alte Stuttgart” schon kennenlernen dürfen.
Meine Großeltern wohnten seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Stuttgart. Sie kamen aus dem Osten, wie so viele jüdische Menschen, die sich dort weder geistig-kulturell noch individuell selbst entfalten konnten. In ihren kleinen Städtchen – ihren Geburtsorten –  hatten sie kaum eine Existenzmöglichkeit. Was aber dort reichlich vorhanden war, trugen sie eifrig in ihren Herzen nach Deutschland: einen tiefen und unerschütterlichen Glauben an Gott und seine Gerechtigkeit, an seine unendliche Liebe für alle seine Geschöpfe. Dieser Glaube charakterisierte besonders meine Großmutter, die für ihre Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft berühmt war. Jeder, der sich an sie wandte oder jedem, von dessen Not sie gehört hatte, hatte sie geholfen. Wurde zum Beispiel eine Frau von ihrem Mann geschlagen, hatte sie die Frau bei sich aufgenommen. Sie durfte im Kinderzimmer unterkommen, während die eigenen Kinder dort ausziehen mussten. Zu Geburten, die damals zu Hause vorgenommen wurden, war sie auf Wunsch immer verfügbar. Nach damaliger Sitte, sollte jede Person ihre „Tachrichim” (hebräisch: Sterbekleider) zu Hause haben. An arme Leute, die dieses Kleidungsstück nicht besaßen, verschenkte sie es.


Fanny Aufrichtig, geb Fischler, kam um die Jahrhundertwende im Alter von 16 Jahren nach Stuttgart. Sie verließ ihre Heimatstadt Brzesko in Polen als einzige aus ihrer großen Familie. Dort, in der Nähe von Krakau, war es ihr, die perfekt deutsch in Wort und Schrift beherrschte, die immer nach Selbständigkeit strebte, zu eng geworden. Nur ihre Mutter wußte, dass sie wegging. Dem Vater hat man das nicht verraten…
In Stuttgart angekommen, teilte sie ein Zimmer mit einer Freundin, Frl. Gittler. Fanny arbeitete als Wäscheverkäuferin bei Landauer, im damals besten Geschäft in Stuttgart. Bereits nach kurzer Zeit bot man ihr die Stelle als erste Verkäuferin an. Das lehnte sie entschieden ab, da sie in dieser Position auch am Sabbat hätte arbeiten müssen, der ja bekanntlich der beste Verkaufstag ist. Sie wählte den anderen, unbequemen Weg, baute einen Handel mit Bettwäsche auf. – Meine Großmutter Fanny hat hierfür schwer gearbeitet. Sie war unter der Woche, zusammen mit ihrem Ehemann Isaak, meinem Großvater, unterwegs auf Reisen. Dieser war um dieselbe Zeit aus Zawaduwka in Galizien nach Stuttgart gekommen. Die beiden fuhren in entlegene Gegenden, in Städte und Dörfer auf der schwäbischen Alb ebenso wie in den südlichen Schwarzwald – bis zur Schweizer Grenze. So konnten sie sich gegenseitig unterstützen, waren erfolgreich und überall beliebt und gern gesehen. Dabei hielt Fanny sich immer streng an die religiösen Gesetze und aß nicht “auswärts”. Sie nahm sich auf Reisen immer ihr eigenes koscheres Essen mit.
Meine Großmutter trug die mitgebrachte Religion tief in sich. Regelmäßig ging sie dann mit anderen frommen Menschen, die eine ähnliche religiöse Herkunft und Einstellung hatten, an Samstagen und Feiertagen, zum Gebet. Sie füllte ihre Religiosität in großer Treue und Lebendigkeit aus. Alle Riten wurden genauestens eingehalten, nichts wurde vergessen und nichts wurde entschuldigt. Zum Wochenende (freitags) kamen Fanny und Isaak immer nach Hause in die Obere Bach Str. 4, (heute: Josef-Hirn-Platz) zurück. Sie bereitete dann den heiligen Sabbat – an dem ja jede Arbeitstätigkeit verboten ist – mit Saubermachen, Kochen und Backen vor Sonnenuntergang vor.


Auch mein Großvater Isaak hatte die Pflichten und Riten seiner Religion treu erfüllt. Das hat ihn aber nicht daran gehindert, sich mit der christlichen Religion auseinander zu setzen. Er beschäftigte sich mit der Religionsphilosophie und mit der Lehre Jesu, die ja ihre Wurzeln im Jüdischen haben. Er war mit seinen höheren Erkenntnissen, die ja damals unter den Juden nicht die Regel waren, seiner Zeit weit voraus. Erst im heutigen Israel und anderswo, beschäftigen sich Juden ernsthaft mit der Lehre Jesu.
Mein Großvater war auch ein guter Geschichtenerzähler. Als er mal bei seiner Cousine Eva Schlüsselberg und deren Familie zu Besuch war, saßen alle in der Küche, und mein Großvater erzählte eine Geschichte. Dabei geschah es, dass alle ganz vergessen hatten, dass sie einen Topf mit Milch auf dem Küchenherd erhitzt hatten. Die Erzählung zog sie so in ihren Bann, dass sie – obwohl sie in der Küche saßen – auch nicht merkten, als die Milch überlief. Nur als der Topf leer wurde und fast zu brennen begann nahmen sie ihn schnell vom Herd.
Ihre Frömmigkeit hinderte meine Großeltern nicht daran, eine unerschütterliche Liebe zur neuen schwäbischen Heimat zu entwickeln. Als mittlerweile glühende Schwaben-Patriotin dekorierte Fanny die Wohnung mit einer Portrait-Galerie sämtlicher Hohenzollern nebst Prinzen und Prinzessinnen.

1933 kam der Schock: Die SA demonstrierte kurz nach Hitlers Machtübernahme vor ihrem Haus in der Oberen Bach Strasse: „Kauft nicht beim Juden.” Die Tochter der beiden, meine 1910 in Stuttgart geborene Mutter, zog die Konsequenz: Im Oktober 1934 wanderte sie zusammen mit ihrem Mann, den sie kurz zuvor geheiratet hatte, nach dem damaligen Palästina aus. Etwa zur selben Zeit, verließ ihr Bruder Kurt, der zwei Jahre jünger war, Deutschland. Er wanderte über Spanien nach Bolivien aus. Meine Großeltern, die jetzt alleine geblieben waren, bemühten sich um ein Einreisevisum für die USA. Sie bekamen schon ein Affidavit (Immigrationseinladung) von Verwandten und wurden eingetragen in die Warteliste. Da ihre Geburtsorte als Ergebnis des Ersten Weltkrieges polnisches Staatsgebiet geworden war, betraf sie die Quotierung für polnische Einwanderer und es galt für sie – im Vergleich zu Einwanderern, die in Deutschland geboren waren – eine wesentlich längere Wartezeit von sieben Jahren. Denn die Quote richtete sich nicht nach der Staatsangehörigkeit, sondern nur nach dem Geburtsort.
1938 fuhr Fanny nach Polen, um sich von ihrer Schwester  in Brzesko, die sie 30 Jahre nicht gesehen hatte, zu verabschieden. Als sie nach Deutschland zurückkehren wollte, wurde ihr die Einreise verweigert. So blieb sie in Brzesko. Näheres, Zuverlässiges ist uns nicht bekannt, da wir von verschiedenen Überlebenden unterschiedliche Geschichten hörten. Das ändert nichts an der Tatsache, dass Fanny nur bis 1942 am Leben war. Bis dahin kam ab und zu Post durch das Rote Kreuz zu meinen Eltern nach Palästina. Ich erinnere mich genau an das Schreiben meiner Großmutter, in welchem sie berichtete, dass sie einen deutschen Soldaten von der Oberen Bachstr. in Stuttgart in Brzesko getroffen hat, der ihr was zu essen gegeben hat. Meine Großmutter liebte Stuttgart sehr. In einigen Briefen wiederholte sie die Worte: „Zu Fuß zurück nach Deutschland”. Es war ihr nicht mehr vergönnt. Sie musste bis zum Schluß an dem Ort ausharren, von wo sie als junges Mädchen wegging. Bei der Liquidierung des Ghettos von Brzesko, wurde sie selbst zum Opfer. Mit ihr war ihre gute Stuttgarter Nachbarin und Freundin Lotti Laser.

Mein Großvater Isaak, der die ganze Zeit alleine in Stuttgart geblieben war, wurde aus seiner Wohnung herausgeworfen. Er wohnte unter verschiedenen Adressen in Stuttgart zusammen mit anderen Schicksalsgenossen. Er musste Zwangsarbeit im Strassenbau leisten. Er schrieb uns verzweifelte Briefe, die wir noch besitzen. Er versuchte aus Stuttgart herauszukommen. Es gelang ihm aber nicht. Kein Land wollte ihn aufnehmen. Die Einwanderungsgesetze (z. B. in Palästina) waren streng und rücksichtslos. Es gab keine Einreise und kein Erbarmen. So wurde er 1941 nach Riga deportiert, wo er sein Leben gewaltsam verlor.Das Andenken meiner Großeltern möge für immer lebendig bleiben.
Anne Fischer (Pseudonym)

Laser Lotti mit DemnigFinanzierung der Kleindenkmale / Paten für:
Isaak Aufrichtig: Sabine Spielmann, Stuttgart
Fanny Aufrichtig: Karin Andre, Stuttgart
Lotti Laser: Monika Kühn, Stuttgart

 

Verlegung des Kleindenkmals
für Lotti Laser am 23.09.2005
durch Gunter Demnig