Die Familie Kohn gehört zu den ältesten in Stuttgart-Süd lebenden jüdischen Einwohnern. Adolf Kohn zog 1912 von der Römerstraße 6 in die Kolbstraße 4 C, wo er im Hochparterre eine Reklame-Zugabenartikel-Großhandlung betrieb. Er lebte hier mit seiner Frau Paula und den vier Kindern: Elsbeth (* 1907), Wilhelm (1909), Lucie (1915) und Anny (1919).
Paula Kohn, geb. Fränkel, am 9.6.1879 in Fürth geboren, wurde schon 1932 Witwe, ihr Ehemann Adolf (*1870) ist auf dem Israelitischen Teil des Pragfriedhofs bestattet.
Paula und ihre Kinder waren nun der 1933 beginnenden Verfolgung allein ausgesetzt, der Enteignung des Geschäftes und der Beraubung des Vermögens. Durch Zimmervermietung mit Beköstigung und Aufnahme von Pflegekindern verdiente sie den Lebensunterhalt. Da sie herzkrank war, konnte sie dies nur durch die Mithilfe ihrer jüngsten Tochter Anny leisten.
Die älteste Tochter Elsbeth lebte in Berlin, wo sie 1938 starb. Die zweite Tochter Lucie war 1934 im Alter von 19 Jahren in die Tschechoslowakei gegangen und 1936 nach Palästina ausgewandert. Sie wurde später Krankenschwester und meldete sich von Haifa/Israel aus.
Wilhelm Kohn, der Sohn, geb. am 25.2.1909, arbeitete als Kaufmann in der Schuhbranche zeitweise in Mannheim und war zuletzt in Stuttgart in leitender Stellung in einer jüdischen Schuhfirma tätig, durch deren Arisierung er seine Existenz verlor. 1938 wurde er zwangsweise als Hilfsarbeiter zu Erdarbeiten verpflichtet. Er wohnte bei der Mutter, so wie seine Schwester Anny.
Anny Kohn, die jüngste Tochter, geb. am 28.4.1919, musste nach dem Besuch einer Haushaltungsschule zu Hause der kranken Mutter helfen. Später muss sie aber doch vorübergehend in Neu-Isenburg bzw. Frankfurt gewohnt haben, denn am 2.4.1940 wurde in Frankfurt ihre Tochter Bela Rachel Kohn geboren. Nach dem Bericht einer später in die USA emigrierten Fürsorgerin wurde das Baby zu Pflegeeltern nach Villingen im Schwarzwald gegeben. Wie alle badischen Juden wurde es mit den Pflegeeltern am 22.10.1940 – also im Alter von knapp sieben Monaten! – ins Internierungslager Gurs in Südfrankreich deportiert. Im Januar 1941 brachte man das kleine Kind in schwer krankem Zustand in ein Kinderheim nach Limoges, wo Germaine May, geb. Levy, die Vormundschaft übernahm. Nach dem Krieg stellte Bela Rachel Kohn die Wiedergutmachungs-Anträge von Limoges aus.
Am 1. April 1940 zieht Paula mit Wilhelm von der Kolbstraße in ein kleines Haus in der Frühlingshalde 10 am Hang zum Killesberg, später kommt Anny dazu. In einem Brief an ihre Tochter Lucie in Palästina vom 5. März 1940 beschreibt Paula erstaunlich positiv und geradezu glücklich die Lage, die ja nach all den erlebten Demütigungen und der Enteignung des Besitzes gar nicht so gut gewesen sein kann. Es ist das letzte Lebenszeichen der Verfolgten aus der Heimat.
Sie schreibt von ihrer (plötzlich) guten Gesundheit, sie brauche keinen Arzt mehr (wahrscheinlich gibt es keinen jüdischen mehr). Sie schwärmt von dem Häuschen im Garten mit Obstbäumen und freut sich auf den Frühling, sie beschreibt die einzelnen Zimmer, “meine Pensionäre können mitziehen, unsre Sachen bringen wir alle unter.”
Auch Wilhelm schildert zuerst Normalität: An seinem 31. Geburtstag gab es den üblichen Kuchen, am Sonntag sei er Ski gefahren, und bald wird es Gartenarbeiten geben. Aber dann: “In meiner USA-Sache habe ich nichts mehr gehört. Zehntausende sind fort, alle Bekannten, ist es Glück oder Unglück, dass ich noch hier bin?”
Am 19. November 1940 heiratet Wilhelm Gerda Lewinski in Berlin, Standesamt Tiergarten. Gerda ist am 19.6.1919 in Marienwerder / Westpreußen geboren. Sie hatte statt des ihr verweigerten Abiturs Schneiderin gelernt und ist in Stuttgart bei der jüdischen Gemeinde als Kursleiterin angestellt. Sie wohnt nun auch in der Frühlingshalde 10 in Stuttgart-Nord.
Am 14. Oktober 1941 – nach 1 ½ Jahren unter wenigstens erträglichen Umständen – erfolgt die Evakuierung der vier Kohns nach Haigerloch, einem Ort mit größerem jüdischen Bevölkerungs-Anteil. Dies bedeutet Sammlung der Juden als Vorstufe zur Deportation nach dem Osten. Es ist ein Leben auf engstem Raum in einem jüdischen Haus. Die Deportation, zusammen mit den einheimischen Juden, erfolgt schon nach sechs Wochen.
Am 1. Dezember 1941 geht der erste Transport mit etwa 1000 württembergischen Juden vom Güterbahnhof des Nordbahnhofs ab nach Lettland ins Lager Jungfernhof bei Riga. Eine Umsiedlung wird vorgegaukelt: Eimer, Werkzeuge bis hin zu Nähmaschinen sollen mitgenommen werden, nur unter 65 Jahre alte Juden bekommen eine Aufforderung; Paula Kohn ist 61 Jahre alt, sie und ihre Kinder werden am 27.11.1941 von Haigerloch ins Sammellager auf den Killesberg gebracht.
Im Lager Jungfernhof wird die Familie Kohn auseinander gerissen. Hannelore Marx, die überlebte und es von “STUTTGART über RIGA bis NEW YORK” (so der Titel ihres Buches) schaffte, sah die Kohns noch zusammen im Lager. Sie nimmt an, dass Paula Kohn am 26. März 1942 im Wald von Bikernieki erschossen wurde, als etwa 1600 Erwachsene und 240 Kinder als untauglich für die kommende Frühjahrs-Fronarbeit “abgegeben” werden mussten, wie die SS-Befehlshaber die Massenexekution zynisch bezeichneten.
Wilhelm Kohn soll im Juli 1942 ins Ghetto Riga gekommen und dort erschossen worden sein, er wird später auf 31.12.1942 für tot erklärt.
Die beiden gleichaltrigen Schwägerinnen Anny und Gerda, erst 25 Jahre alt, halten am längsten durch. Ab August 1944 werden die noch lebenden Insassen der Lager um Riga nach Stutthof bei Danzig verlegt. Nach den in Stutthof vergebenen Häftlingsnummern müssen Anny und Gerda zwischen dem 29. Sept. und 1. Okt. 1944 in dieses KZ gekommen sein.
Eine Überlebende berichtet 1948 in dem von Gerdas Bruder, Kurt B. Lewinski von Australien aus angestrengten Wiedergutmachungs-Verfahren; sie war von 1940 in Haigerloch an bis zum September 1944 in Stutthof mit Gerda zusammen: “Ihre Schwester Gerda musste leider auch bald ihren Mann (Wilhelm) verlieren. Es ging ihr im Lager Riga verhältnismäßig ordentlich, da sie sich im Nähen betätigen konnte. Wir kamen dann in ein Lager Stutthof bei Danzig, wo Gerda leider verblieben ist. Es war ein Schreckenslager, ich werde nie im Leben vergessen, was sich dort alles abgespielt hat.”
Nach Auskunft des australischen Roten Kreuzes ist Gerda Kohn im Oktober 1944 im KZ Stutthof bei Danzig verstorben. Sie wird auf 31.10.1944 für tot erklärt.
Ob Anny Kohn in Stutthof noch bis zum Jahr 1945 aushalten musste, weiß man nicht. Sie wird später auf 8.5.1945 für tot erklärt.
Recherche & Text: 2008 / Irma Glaub, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Süd.
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg, Stadtarchiv Stuttgart.