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Lazarus Karschinierow, Neckarstr. 150

Lazarus Karschinierow wurde 1877 in Cherson in der Ukraine geboren. Um die Jahrhundertwende emigriert er nach Hamburg, arbeitet als Zigarettenfacharbeiter und lernt Auguste Kolle kennen. Die beiden heiraten, Auguste konvertiert zur jüdischen Religion. 1906 kommt ihr Sohn Gustav zur Welt. 1907 zieht die junge Familie weiter nach Stuttgart, wohnt zunächst in der Hackstrasse 80, dann im Kanonenweg 160 und in der Landhausstraße 205, und schließlich ab 1917 für über 20 Jahre in der Lehmgrubenstraße 37/1. Im Mai 1908 wird die Tochter Jeanette geboren. Lazarus arbeitet als Werkmeister in der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria in der Hackstraße 9.

Karschinierow vor TabakladenIm Jahr 1929 verliert er seine Arbeit, weil die Firma an Reemtsma verkauft wurde und ihren Betrieb einstellt. Im selben Jahr eröffnet er in der Neckarstraße 150 ein Tabakwarengeschäft. Zum Geschäft gehört auch eine kleine Leihbücherei.

1933 trifft der Judenboykott der Nazis die wirtschaftliche Existenz der Familie: Der Tabakladen befand sich gegenüber dem Postgebäude und dem Telegrafenbauamt. Ein wichtiger Teil seiner Kundschaft bestand aus Bediensteten der Reichspost. Diese wurden nach 1933 daran gehindert, das Geschäft zu betreten. Zeitweise wurde vom Telegrafenbauamt vor dem Laden ein Posten aufgestellt, der darauf zu achten hatte, ob jemand das jüdische Geschäft betritt. Am 9. November 1938, in der Pogromnacht, wird das Geschäft von den Nazis zerstört, die Schaufenster und die Automaten zerschlagen, das Tabakwarenlager geplündert, der Laden von der Gestapo versiegelt. Lazarus kommt zwei Tage in Haft und muss sein Geschäft aufgeben. Seine Gesundheit ist ruiniert.

Auguste KarschinierowDie Familie muss die Wohnung in der Lehmgrubenstraße aufgeben und zieht im Januar 1939 in die Neckarstraße. Lazarus stellt einen Rentenantrag; erstaunlicherweise wird ihm ab März 1939 eine vorzeitige Rente bewilligt. „Ich weiß nicht, was den Vertrauensarzt dazu bewogen hatte, den Antrag zu befürworten.“ – erklärt nach dem Krieg seine Tochter Jeanette – „Es mag sein, dass mein Vater durch die Verfolgungserlebnisse mit den Nerven sehr herunter war und der Vertrauensarzt eine andere Einstellung hatte und ihm einfach helfen wollte.“ Im Oktober 1939 stirbt seine Frau Auguste und wird auf dem Pragfriedhof beerdigt. Zur selben Zeit müssen Vater und Tochter zwangsweise in ein „Judenhaus“ in der Kernerstraße 11 einziehen.

Jeanette, die seit ihrer kaufmännischen Ausbildung bei Waldorf-Astoria in vielen Firmen der Zigaretten- und der Textilbranche als Sekretärin gearbeitet hatte, verliert ihre Stelle bei der Firma Krautkopf in der Rosenbergstraße. „Ihr Ausscheiden bei uns“ – heißt es im Zeugnis „erfolgt auf 31. Oktober 1938 und ist lediglich durch die derzeitigen Verhältnisse bedingt.“ Für ein halbes Jahr kann sie im Hess-Verlag in der Lenzhalde arbeiten und danach bis zur Deportation in der Jüdischen Mittelstelle in der Hospitalstraße 36. Dort bearbeitet sie „Steuer- und Auswanderungs-abgabesachen“; die jüdischen Stuttgarter mussten ihre Ausplünderung selber verwalten. Jeanette und Gustav KarschinierowJeanettes Bruder Gustav, der schon lange in Düsseldorf Arbeit gefunden hatte, konnte nach Belgien fliehen und sich dort und in Frankreich verstecken. Seinen Sohn Uriel kann er zunächst in einem katholischen Heim und dann in einer Pflegefamilie in Zürich in Sicherheit bringen. Er selber wird den Krieg in einem Internierungslager in Frankreich überleben.

Ab 1.9.1941 müssen Lazarus und Jeanette beide den Judenstern tragen. 1942 wird Lazarus Karschinierow zwangsumgesiedelt in ein jüdisches Altersheim in Weißenstein im Kreis Göppingen. Jeanette wird am 31.7.1942 verhaftet und in Zwangsarbeitslager in Rudersberg bei Welzheim eingewiesen. Am 22. August 1942 werden Vater und Tochter nach Theresienstadt deportiert. Lazarus stirbt dort am 4. Mai 1945, kurz vor der Befreiung.

Jeanette kehrt nach der Befreiung im Juni 1945 nach Stuttgart zurück. Ein Jahr später heiratet sie den Viehhändler Harry Kahn, den sie in Theresienstadt kennen gelernt hatte. Sie zieht zu ihm in sein Heimatdorf Baisingen bei Horb. Dorthin war er 1945 zurückgekehrt. 1947 wird ihr Sohn Fredy geboren. Ihm verdanken wir die Bilder sowie viele Einzelheiten aus der Geschichte seiner Großeltern, seiner Mutter und seines Onkels.
Harald Stingele

Quellen:

Adressbücher der Stadt Stuttgart
Akten der Entschädigungsverfahren Lazarus Karschinierorw und Jeanette Kahn
Gespräche mit Fredy Kahn