Heinrich Baumann: der Transportarbeiter im Stuttgarter Gemeinderat
Leonhard Heinrich Baumann stammt aus dem Hohenlohischen. Er wurde am 6. Juni 1883 in Marktlustenau bei Crailsheim als Sohn des Landwirts Jacob Baumann und seiner Frau Anna Magdalena geb. Kögler geboren. Als einer der vielen Zuwanderer aus dem ländlichen Raum in der Zeit der Industrialisierung des Mittleren Neckarraums kam er kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Stuttgart. 1914 ist er erstmals im Städtischen Adressbuch verzeichnet, in der Aspergstr. 37 in Gablenberg. Schon im folgenden Jahr zieht er in die Champignystr. 25 am Stöckach. Das Haus in der neuen, nach einer Schlacht im deutsch-französischen Krieg benannten Strasse war im Jahr 1913 gebaut worden. Als Berufsbezeichnung ist „Güterbodenarbeiter“ eingetragen. Ob er von Anfang an bei der bekannten Spedition Gustav v. Maur beschäftigt war? Sein Sohn aus erster Ehe, Willi Otto, kam 1908 in Saalfeld in Thüringen zur Welt. Hatte er zuerst dort sein Glück versucht? Jedenfalls heiratet er 1929 die aus Ehingen gebürtige Margaretha Frida Baumann geb. Späth, die ihm schon 1928 einen zweiten mit dem Vater namensgleichen Sohn geboren hatte. Hatten die beiden sich vielleicht in einem der Treffpunkte der Stuttgarter Arbeiterbewegung kennen gelernt, im Waldheim Sillenbuch, dessen letzter Vorsitzender er wurde? Die junge Familie wohnte im 4.Stock der Champigny-Strasse am Stöckach. Im Erdgeschoss gab es eine Lebensmittelhandlung, in den anderen Stockwerken wohnten eine Schlosserswitwe, ein Kaufmann, ein Versicherungsbeamter und ein Kriminaloberwachtmeister.
Bei der Wahl für den Stuttgarter Gemeinderat am 9. Dezember 1928, bei der 30 der 60 Sitze neu besetzt wurden, kandidierte Heinrich Baumann auf der Liste der Kommunistischen Partei. Das beste Ergebnis erzielte mit 10 Sitzen die SPD; die KP bekam ebenso wie DNVP und DDP 4 Sitze, die NSDAP konnte kein einziges Mandat gewinnen. Heinrich Baumann kam mit 30208 Stimmen auf seiner Liste nur auf Platz 6. Also wurde er zunächst nicht Mitglied des Gemeinderats. Im März 1929 kam es zur offenen Krise in der KP: die KPD-Opposition wird ausgeschlossen, auch die Rathausfraktion zerbricht. Über Heinrich Baumanns Position in diesen Kämpfen, ist nichts überliefert. Doch wäre er Vorsitzender des Waldheim-Vereins geworden und hätte er 1932 sein Mandat antreten können, wenn er nicht linientreu gewesen wäre? Im Juli 1932 – inzwischen war Ende 1931 die andere Hälfte des Gemeinderats neu gewählt worden und die NSDAP hatte 13 Sitze gewonnen – legt Maria Walter, Zuschneiders-Ehefrau aus Cannstatt, ihr Gemeinderatsmandat nieder, weil sie in den Landtag gewählt worden war. Heinrich Baumann rückte nach den Bestimmungen der Gemeindeordnung nach, wurde für den Rest der Wahlperiode als Ersatzmann berufen und am 7. Juli 1932 durch Oberbürgermeister Lautenschlager vereidigt. Er wurde Mitglied in zahlreichen Gemeinderatsausschüssen, trat aber in den wenigen Monaten, in denen er den Gremien angehörte, nicht ins Rampenlicht.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde sofort als erster Angriff auf die politischen Gegner die Kommunistische Partei zerschlagen, alle die von ihr beeinflussten Vereine und Organisationen aufgelöst, das gesamte Vermögen beschlagnahmt, ihre Presse verboten. In der Nacht zum 11.März 1933 verhaftete die Polizei rund 200 Kommunisten in Stuttgart, sammelte sie in der Reithalle und verschleppte sie über eine Kaserne in Ulm ins neu gegründete „Schutzhaftlager“ genannte KZ auf dem Heuberg bei Stetten am Kalten Markt. Unter den Verhafteten war auch Heinrich Baumann. Das Verzeichnis der Mitglieder des Stuttgarter Gemeinderats vermerkt seinen „Dienstaustritt“ am 31. März 1933. Das war einer von ca. 30 „Dienstaustritten“ zu diesem Termin. Die „Nachwahlen“ am 27. April und am 18. Dezember 1933 waren eine Farce: der Gemeinderat war gleichgeschaltet. Karl Strölin, der von den Nazis ernannte neue OB, konnte in der Sitzung am 21. Dezember 1933 triumphierend verkünden, dass der Gemeinderat jetzt nur noch eine Fraktion kenne, die der NSDAP. In seiner Rede hob er besonders hervor, dass dem Gemeinderat „nunmehr keine Frauen mehr angehören. Die neue Staatsführung weist den Frauen mit Recht ihre Aufgaben außerhalb der politischen Körperschaften zu.“
Noch aus der Haft heraus versuchte Heinrich Baumann seiner Aufgabe als Vorsitzender des Waldheim-Vereins gerecht zu werden. In einem Schreiben ans Bürgermeisteramt Sillenbuch vom 13. März 1933 entschuldigte er sich, dass er wegen seiner Verhaftung daran gehindert sei, einige dringende Angelegenheiten des Waldheims mit dem Bürgermeisteramt zu regeln. Im selben Brief informierte er die Behörde offiziell, dass er am 18. Februar 1933 zum 1.Vorsitzenden des Waldheim-Vereins gewählt worden war. Doch das hatte sich erledigt: Ebenfalls am 13. März wurde der Verein aufgelöst, das Gebäude beschlagnahmt und von SA und Hitlerjugend besetzt. Vier Monate später wurde Heinrich Baumann auf Anordnung des Württ.Innenministerium-Württ.Polit.Polizei aus dem KZ Heuberg entlassen. Die Behörde bescheinigt ihm:
„Er hat sich täglich bei der zuständigen Polizeiwache zu melden. Die Entlassung erfolgte aus dem Grunde, weil Baumann zu der am 25.7.33 nachm. 1 Uhr stattfindenden Beerdigung seiner Mutter reisen soll. Wiederergreifung ohne besondere Weisung ist zu unterlassen.
Stuttgart, den 24.7.33, Württ. Innenministerium: W.Polit.Polizei i.A. Rattelmay
Die wirtschaftliche Lage der Familie in den folgenden Jahren ist prekär. Frida Baumann schildert die Situation 1950 in einer eidesstattlichen Erklärung gegenüber dem Amt für Wiedergutmachung: „Mein Mann war vom 11.3.1933 ab in Schutzhaft, und aufgrund dieser Inschutzhaftnahme bei seiner Firma Gustav v. Maur Speditionsgeschäft entlassen worden. Er hat bis zu diesem Zeitpunkt etwa 30.- bis 32.- Mark wöchentlich verdient und ich kann mich entsinnen, dass er, nachdem er aus der Haft entlassen war, etwa 12.- oder 13.- Mark Erwerbslosenunterstützung erhielt. Nachdem mein Mann aus der Erwerbslosenunterstützung ausgesteuert war, erhielt er Krisenunterstützung, welche um einige Mark geringer gewesen ist. Während dieser Zeit, solange mein Mann in der Krisenunterstützung unterstützt wurde, hat er einmal in der Kocherkanalisation und dann später in der Plattenfabrik in Gaisburg als Notstandsarbeiter gearbeitet. Während dieser Zeit der Notstandsarbeit hat er keine Unterstützung erhalten, in dieser Zeit hat er ca. 15.- bis 18.- Mark wöchentlich verdient. Diese Notstandsarbeiten erstreckten sich jeweils über etwa vier Wochen und nach der Tätigkeit bei der Plattenfabrik hat mein Mann dann bei der Firma Schenker zu arbeiten begonnen.“ Dort arbeitet er bis zu seiner Verhaftung 1944.
Zu den wirtschaftlichen Sorgen kam der politische Druck. In Ihrem Antrag an die Wiedergutmachungsstelle für politische KZ-Insassen schreibt Frida Baumann 1946: „Mein Mann der Lagerverwalter Heinrich Baumann (…) ist aus politischen Gründen im März 1933 verhaftet worden und war bis Ende Juli im KZ Heuberg. Nach seiner Entlassung war er 3 Jahre arbeitslos und musste sich 7 Monate lang jeden Tag auf dem zuständigen Polizeirevier melden. Wir waren sodann immer den Schikanen und Haussuchungen der Gestapo ausgesetzt. Wir hatten dann Ruhe bis zum Anschlag auf Hitler. Am 22. August 1944 wurde mein Mann abermals verhaftet und zwar ins KZ Dachau.“
Baumann war nach dem Attentat des 20. Juli 1944 als Verdächtiger verhaftet worden. Eine Beteiligung konnte ihm aber nicht nachgewiesen werden.
Ob Heinrich Baumann eine Rolle im Widerstand gespielt hatte oder ob er lediglich aufgrund seiner früheren politischen Arbeit verhaftet worden war, war nicht in Erfahrung zu bringen. Die letzten Monate seines Lebens erleidet er als Schutzhäftling mit der Nummer 93038. Am 23. Februar 1945 stirbt er „angeblich an den Folgen einer Rippfellentzündung“ wie seine Witwe 1946 zweifelnd erklärt. (Heinrich Baumanns Tod wurde nach Kriegsende sehr unterschiedlich beschrieben. Sprache definiert Geschichte; mehr dazu finden Sie hier.)
Zwei Tage zuvor hatte sein inzwischen 17-jähriger Sohn den Stellungsbefehl zum Militär bekommen und musste als Teil des letzten Aufgebots für die Nazis, die gerade seinen Vater ermordet hatten, in den Krieg ziehen. (Auszüge eines Gespräches mit Heinrich Baumann jun. finden Sie hier).
1946 wird die Champigny-Straße nach Heinrich Baumann umbenannt, 1952 konnte die Rückbenennung nur knapp verhindert werden. Die Geschichte dazu finden Sie hier.
Im Jahr 2021 wurde im Rahmen des StolperKunst-Projektes der Film “Die doppelte Lücke” gedreht. Der Film weist darauf hin, dass im Stuttgarter Rathaus weder an Heinrich Baumann und andere Verfolgte und Ermordete aus dem Gemeinderat und der Stadtverwaltung erinnert wird noch an die Machtübernahme durch die Nazis und ihren Oberbürgermeister Karl Strölin. Den Film finden Sie hier.
Für Heinrich Baumann hat Lenke Raiser ein Bild entwickelt und gedruckt. Das Bild ist entstanden im Rahmen des StolperKunst-Druckprojekts in der Druckwerkstatt Stuttgart-Ost- Mehr zu diesem Jugendkunst-Projekt sowie das Bild finden Sie hier.
Harald Stingele