Am 27. November 1941 schloss Carl Eisig (64) vor dem Stuttgarter Standesamt die Ehe mit seiner verwitweten Kusine Johanna Metzger geb. Eisig (46). Zu dem Zeitpunkt wohnte Carl Eisig bereits gezwungenermaßen im jüdischen Altersheim in der Heidehofstraße 9. Von dort kamen auch die beiden über achtzigjährigen Trauzeugen, der Onkel Arthur Essinger und der Kaufmann Heinrich Richheimer.
Möglicherweise musste sich das Paar noch am Tag der Eheschließung gleich vom Standesamt aus im Sammellager auf dem Killesberg einfinden. Zusammen mit über 1000 weiteren jüdischen Bürgern aus Württemberg hatten sie per Erlass der Geheimen Staatspolizei vom 18. November die Aufforderung erhalten, sich ab dem 27.11.1941 im Sammellager auf dem Killesberg bereitzuhalten, von wo aus die „Umsiedlung nach dem Osten“ vonstatten gehen sollte. Vielleicht mussten sich in Stuttgart Wohnende aber auch erst am nächsten oder übernächsten Tag dort melden.
Am 1. Dezember 1941, vier Tage nach der Hochzeit, wurde Carl Eisig und seine Frau, zusammen mit Johannas Bruder Hermann und dessen Frau Melitta, vom Nordbahnhof aus nach Riga deportiert, wo alle vier im Laufe des Jahres 1942 gewaltsam ums Leben kamen. Die beiden Trauzeugen kamen, wie auch Johannas Mutter Helene Eisig, im August 1942 in das „Ghetto Theresienstadt“, wo sie noch im selben Jahr ebenfalls umkamen.
An Johanna Metzger-Eisig, ihre Mutter Helene Eisig, sowie an die beiden Trauzeugen, erinnern Stolpersteine in Stuttgart.
Carl Eisig wurde am 14. 2. 1877 in Heilbronn geboren, als Spross einer weit verzweigten jüdischen Familie aus Kochendorf bei Heilbronn, von wo die Familie des Vaters um 1860 zugezogen war. Schon der Urgroßvater war in Kochendorf als „Fruchthändler“ bzw. Getreidehändler tätig gewesen, die Söhne und Enkel führten das Geschäft weiter. Nach dem Tod seines Vaters 1909 leitete der Urenkel Carl Eisig die Firma „Albert Eisig Landesproduktengroßhandel“ in Heilbronn als Alleininhaber. Sein einziger Bruder war bereits 1905 in Tübingen verstorben. Auch weitere Mitglieder der Familie waren in Heilbronn kaufmännisch tätig, im Bereich Landesprodukte und im Gewürzhandel.
Über die konkreten Lebensumstände von Carl Eisig in Heilbronn haben wir keine persönlichen Zeugnisse. Aus den dortigen Adressbüchern ist zu ersehen, dass er wohl von Geburt an, bis zu seinem nicht ganz freiwilligen Umzug 1937 nach Stuttgart, im Haus seiner Eltern in der Paulinenstraße 7 gewohnt hat. Nach 1905, dem Jahr ihrer Scheidung, dürfte auch seine Schwester Julie Scheuer mit ihren beiden kleinen Söhnen Paul Samuel (geb. 1897 in Fulda) und Ernst (geb. 1899 in Stuttgart) in das Elternhaus in Heilbronn zurückgekehrt sein. Sie taucht zwar als Frau ohne eigenen Hausstand nicht selbst mit einem Eintrag im Adressbuch auf, dennoch ist anzunehmen, dass Julie Scheuer zunächst für den verwitweten Vater, und nach dessen Tod 1909 für den unverheirateten Bruder den Haushalt führte. Erst 1920 wird der Sohn Paul mit einem eigenen Eintrag an derselben Adresse im Adressbuch genannt. Der 1899 in Stuttgart geborene jüngere Bruder Ernst kam 1923 bei einem Unfall ums Leben.
Aus der Broschüre „Jüdische Frontsoldaten in Württemberg und Hohenzollern“ von 1926 geht hervor, dass Karl Eisig im 1. Weltkrieg beim Feldgruppenteil Landw.Inf.R.125 als Gefreiter gedient hat. In den gedruckten Zeugnissen wird der Vorname von Carl Eisig mit K geschrieben, er selbst hat sich jedoch, entsprechend dem Geburtseintrag, stets mit C geschrieben. Ein Vetter seines Vaters hieß zwar ebenfalls Karl Eisig, dieser war jedoch 1849 geboren und somit zu alt für eine Teilnahme am Weltkrieg.
Auch der Neffe Paul Scheuer war Kriegsteilnehmer. Er wurde zweimal verwundet und erhielt als Gefreiter das Eiserne Kreuz II. Klasse.
Wie aus den „Wiedergutmachungsakten“ im Staatsarchiv Ludwigsburg hervorgeht, war Carl Eisig ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Da er selbst nicht verheiratet war und keine Kinder hatte, nahm er den um 20 Jahre jüngeren Neffen Paul Scheuer als Mitarbeiter und Erben in sein Geschäft auf. Aus einer Erklärung des langjährigen Heilbronner Buchhalters Eugen Müller für das „Landesamt für Wiedergutmachung“ vom Februar 1953 geht hervor, dass Neffe und Onkel abwechselnd die Getreidebörsen in Mannheim, Stuttgart, Karlsruhe, München und Nürnberg besuchten. Vor 1936 wurden Jahresumsätze bis zu 4,5 Millionen Reichsmark erzielt, der jährliche Geschäftsgewinn lag zwischen 60 000 und 120 000 RM. Ein Schreiben des Steuerberaters Paul Rhein bestätigt diese Einschätzung. Die Erklärung des Buchhalters schließt mit den Worten:
„Erwähnenswert ist vielleicht noch zur Beurteilung der großzügigen u. sozialen Einstellung des Inhabers der Firma, dass unser Chefbuchhalter, der über 1 Jahr krank u. arbeitsunfähig war, während der ganzen Zeit seine vollen Nettobezüge erhielt.“
Mit der Machtübernahme durch Hitler begann für Carl Eisig der Prozess der Enteignung und Entrechtung, der letztlich in seiner Ermordung mündete.
Im Juni 1936 wurde seine Firma in Heilbronn „arisiert“, das heißt er musste die Firma zwangsweise an einen nicht-jüdischen Käufer abgeben – üblicherweise zu ungünstigen Bedingungen für den Vorbesitzer. Sie wurde von der Wüwa übernommen (Württembergische Warenzentrale landwirtschaftlicher Genossenschaften A.G. Stuttgart, Vorgängerin der Raiffeisen eGmbH). Nicht-jüdische Angestellte wurden weiter beschäftigt, der Neffe Paul Scheuer wurde entlassen.
Carl Eisig musste sein Leben vollständig neu organisieren. Er war jetzt fast 60 Jahre alt. Wie und wovon sollte er in Zukunft ohne seine Firma leben? Auch wurde das Leben in der Kleinstadt Heilbronn unter der Herrschaft der örtlichen Nazis immer unerträglicher.
Carl Eisig zog, wie in der Heilbronner „Judenliste“ handschriftlich vermerkt ist, am 1.4.1937 von der Paulinenstr. 7, dem Haus, das schon vor seiner Geburt im Besitz seiner Familie gewesen war, nach Stuttgart. Auch seine Schwester Julie Scheuer und der Neffe Paul zogen von dort mit ihm in das Haus Eduard-Pfeiffer-Str. 154 A (1938 umbenannt in Parlerstr. 36). Dieses hatte er kurz zuvor mit dem Erlös des Verkaufs seiner Firma erworben, ebenso wie die Häuser bzw. Grundstücke Karl-Klos-Str. 6 und 7, Richthofenstr. 7 und Hackstr. 26. Zwar besaß er auch noch Wertpapiere, aber von den Mieteinnahmen der Häuser konnte er auf alle Fälle ein sicheres Einkommen erhoffen.
Die Schwester Julie Scheuer starb schon im Juni 1937 und wurde in Stuttgart (Pragfriedhof) begraben. Der Neffe Paul betrieb seine Auswanderung in die USA, nachdem er 1938 eine Woche lang im Stuttgarter Polizeigefängnis festgehalten worden war. Leider sind hierzu keine Archivhinweise mehr vorhanden. Im August 1938 wanderte er zunächst nach England aus, wo er nach schwierigen Wochen am 1. Oktober ab Southampton mit der „S.S. Washington“ nach New York aufbrechen konnte. Mit Hilfe von Geldtransfer aus Stuttgart wollte er eine Existenz aufbauen, der Onkel sollte so bald wie möglich nachkommen.
In das folgende Jahr 1939 fällt die Abgabe einer „Sühneleistung“, die alle Juden nach dem Novemberpogrom von 1938 zu erbringen hatten. Neben „Judenvermögensabgaben“, „Reichsfluchtsteuer“ und weiteren Maßnahmen der Nazi-Regierung zur Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung, sollten alle Juden eine Milliarde Reichsmark aufbringen, als „Sühne“ für ihre „feindlichen Einstellung gegenüber dem deutschen Volk“. Carl Eisig musste in 4 Raten 52 000,- RM Aktienwert abgeben. Noch im Februar 1942, als Carl Eisig womöglich gar nicht mehr am Leben war, gab die Handels- und Gewerbebank Heilbronn für ca. 65 000,- RM Wertpapiere von Carl Eisig an die Reichshauptkasse Berlin ab.
Aus Briefen von Carl Eisig an seinen Neffen aus dem Jahr 1939 geht hervor, wie drängend die Situation und der Wunsch, dieser zu entkommen, im Lauf der Zeit wurde. Anfang 1939 schreibt er von Problemen, an den Neffen über die Dresdener Bank Geld nach USA zu transferieren. Carl Eisig nahm mit großem Eifer privaten Englischunterricht, er verlor nicht die Zuversicht. In einem Brief vom Dezember 1939, nach Kriegsbeginn, äußerte er sich auch weiterhin optimistisch, dass die Auswanderung noch gelingen könnte, trotz seiner hohen Registriernummer beim Amerikanischen Konsulat. Ein Stefan Blum aus Kalifornien stellte ihm in Aussicht, er könne ihm beruflich in den USA weiterhelfen, was Carl Eisig eher skeptisch kommentiert. Er werde gut versorgt von Pauline – wohl seine Haushälterin, von der kein Nachname bekannt ist. Sie ließ den Neffen grüßen und ihm zu seiner kürzlich erfolgten Eheschließung gratulieren, die einem lange gehegten Plan des Neffen entsprochen hatte. Unter anderem berichtete Carl Eisig dem Neffen, er werde im März eine Familie Dreyfus, bisher Kräherwald, als Mieter in sein Haus in der Parlerstraße aufnehmen, er jüdisch, sie „arisch“. Er lasse für sie eine Küche im 1. Stock einbauen.
Danach gibt es keine Briefe mehr. Aus den Entschädigungsakten geht jedoch hervor, dass Carl Eisig ab Mitte März 1940 in Untersuchungshaft saß: Er hatte den Betrag von US-$ 1.500,- von einem Konto in der Schweiz nach den USA transferieren lassen, „er wollte durch den Transfer eine Hilfe für den Existenzaufbau schaffen“, so Rechtsanwalt Ulmer als Vertreter von Paul Scheuer nach dem Krieg an das „Landesamt für Wiedergutmachung“. Erst nach Rücküberweisung des Betrags, also einer Art Lösegeld, kam Carl Eisig Ende Mai 1940 wieder frei. Am 28.1.1941 wurde er vom Amtsgericht Stuttgart wegen „Devisenvergehen“ zu zweieinhalb Monaten Gefängnis und einer Gesamtgeldstrafe von 9000,- RM verurteilt. Die Haftstrafe war durch die Untersuchungshaft verbüßt.
Welche Beweggründe dazu führten, dass Carl Eisig und seine verwitwete Kusine Johanna so kurz vor der Deportation nach Riga die Ehe schlossen, ist natürlich nirgends dokumentiert.
Johanna Metzger hatte nach dem Tod ihres Mannes 1937 weiterhin in der Relenbergstraße 64 gewohnt. Ende 1938 hatte sie ihre Mutter Helene Eisig aus Heilbronn kommend bei sich aufgenommen. Auch der Neffe Hans Eduard wohnte einige Zeit bei ihr. Schließlich musste sie mit ihrer Mutter in ein sog. „Judenhaus“ in der Rosenbergstraße 103 ziehen. In der Heiratsurkunde vom 27.11.1941 ist als ihre Adresse der Salzmannweg 16 angegeben, wo ebenfalls weitere jüdische Bewohner verzeichnet sind. Wann genau Carl Eisig 1941 von der Parlerstraße in das jüdische Altersheim Heidehofstraße umziehen musste, wissen wir nicht.
Ein Motiv für die Heirat war sicherlich die Hoffnung, als Ehepaar nicht getrennt zu werden. Laut Nazi-Behörden sollten Familien nach ihrer „Umsiedlung zur Arbeit“ im „Osten“ zusammenbleiben können. Jedoch sollte sich, wie alle „Versprechungen“ des Hitler-Regimes, auch dieses als Lügenmärchen erweisen. Am 4. Dezember 1941 in Riga angekommen wurden Männer und Frauen im Ankunftslager Jungfernhof getrennt.
Südlich von Riga befand sich das Lager Salaspils, das dem Kommando von SS-Standartenführer Rudolf Lange unterstand – der „KZ-Experte“ bei der Wannseekonferenz im Januar 1942 in Berlin, wo die „Endlösung“, das heißt die Ermordung aller Juden, beschlossen wurde. Carl Eisig wurde nach Salaspils weiterdeportiert. In einem englischen Wikipedia-Beitrag zu diesem Lager ist zu lesen, jüdische Ehemänner seien auf diese Weise von ihren Frauen räumlich getrennt worden – um mögliche Schwangerschaften zu verhindern. Wie auch der Propagandafilm über das Sammellager Killesberg vor der Deportation am 1. Dezember 1941, hatten die Nazis keine Hemmungen, in diesem Männerlager einen Propagandafotografen mit der Dokumentation der dortigen Verhältnisse zu beauftragen. Die teilweise äußerst schockierenden Bilder sind auf der Webseite des Bundesarchivs zu finden.
Hier in Salaspils endete Carl Eisigs Leben 1942 zu einem unbekannten Zeitpunkt.
P.S.: Zwei 1940 und 1945 geborene Kinder sowie weitere Nachfahren von Paul Scheuer leben heute in der Nähe von Chicago. Paul Scheuer hat ihnen nie von seiner Familiengeschichte erzählt.
Quellen:
Stadtarchiv Heilbronn: Adressbücher, „Judenliste“, Hans Franke, Geschichte und Schicksal der Juden in Heilbronn, 1963
Stadtarchiv Stuttgart: Adressbücher, „Judenlisten“,
Maria Zelzer, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden, 1964 u.v.a.
HStA digitalisierte Familienblätter
StAL Entschädigungsakten
Bundesarchiv: KZ Salaspils
Susanne Bouché, Initiativkreis Stolpersteine für Stuttgart-Nord, mit Dank für die Unterstützung durch Heinz und Hildegard Wienand