Es ist nicht besonders viel, was wir über das Leben von Hermann Dreifus wissen. Zumindest einen Eindruck vermittelt ein Foto von ihm aus einem frühen Reisepass, das einen lebensfrohen Mann mittleren Alters zeigt, der offenbar mit sich und dem Leben zufrieden ist.
Dieses Foto des am 7. Februar 1868 in Stuttgart geborenen Kaufmannssohns findet sich im Reisepass vom 7. August 1917, ausgestellt von der Königlich-Württembergischen Stadtdirektion Stuttgart. Ein Dokument somit aus der zu Ende gehenden Kaiserzeit, in der die Kaufmannsfamilie Dreifus hier in Stuttgart seit Jahrzehnten eine Firma für Weißwaren, Aussteuerartikel, Damen- und Kinderkonfektion betrieb und offensichtlich gutes Geld damit verdient hatte. Die Firmensitze wechselten im Lauf der Jahre: von der Büchsenstraße in die Friedrichstraße, einige Zeit auch in die Hackländerstraße.
Den Weltkrieg dürfte Hermann Dreifus unbeschadet überstanden haben, denn für eine Einberufung war er wohl schon zu alt – bei Kriegsausbruch 1914 war er immerhin schon 46 -. Auch der Firma scheinen Weltkrieg, die Wirren der Revolution und schließlich Inflation und Weltwirtschaftskrise nicht geschadet zu haben, denn es war offensichtlich so viel Geld da, dass Herr Dreifus mehrere Häuser und Grundstücke in Stuttgart erwerben konnte.
Als er sich an seinem 54. Geburtstag, am 7. Februar 1922, einen neuen Reisepass ausstellen ließ, verwendete er das gleiche – für einen Pass etwas ungewöhnliche – Foto, auf dem er sich offensichtlich gut getroffen fühlte. Befragt, warum er den Reisepass beantrage, gab er an, er wolle Sport – mutmaßlich Wintersport – an verschiedenen Orten in Österreich betreiben. Es scheint sich bei Hermann Dreifus wohl um einen für die damalige Zeit recht modernen, lebenslustigen Junggesellen gehandelt zu haben. Zu einer ähnlichen Wertung könnte man auch bei einem anderen Detail seines Lebens kommen:
Etwa 1918 hatte er das Haus in der Hackländerstraße 28 gekauft und war dort eingezogen. Laut Adressbuch der Stadt Stuttgart wohnte dort ab 1920 auch eine Frau Müller. 1926 wurde eine Berta Müller, Gutsbesitzerin, als dort wohnhaft genannt. Der Name wird uns später noch einmal begegnen.
Vermutlich im Jahr 1927 kaufte er Haus und Grundstück Robert-Bosch-Straße 110, das bis hinunter zur Schottstraße reichte, und zog dort ein. Beim erneuten Passantrag Ende 1928 bezeichnete er sich erstmals als Privatier. Er dürfte in dieser Zeit seine Firma verkauft oder verpachtet haben.
Etwa 1932/33 baute Herr Dreifus am unteren Teil des Grundstücks, in der Schottstraße 59, ein Haus und zog nun von der Robert-Bosch-Straße herunter. Mit in dieses neu errichtete Haus zog ein mit ihm befreundeter Kaufmann Georg Grünwald ein, der seit 1931 mit einer Edith Müller verheiratet war. Herr Grünwald war, wie er im April 1950 erklärte, in dieser Zeit wie auch in den Folgejahren in alle Immobilien- und Grundstücksverkäufe von Herrn Dreifus eingebunden, während seine Frau Edith diesem den Haushalt führte.
Seine letzten Lebensjahre verbrachte Hermann Dreifus hier in der Schottstraße 59. Wir können nur spekulieren, dass er – wie viele jüdischen Bürger – die Gefahr, die von den Nationalsozialisten für alle Juden ausging, unterschätzt und nicht ernst genug genommen hat, andererseits sich auch mit hoch in den Sechzigern nicht mehr vital genug gefühlt hat, um sich im Ausland in Sicherheit zu bringen. Denn an Geld und Auslandserfahrung dürfte es ihm – zumindest anfangs – nicht gefehlt haben.
Doch wird sich dies auch für ihn – wie für alle jüdischen Bürger – zusehends verändert haben. Denn spätestens mit den Rassegesetzen vom September 1935 verschärfte sich die Lage auch der Stuttgarter Juden massiv. Herr Dreifus scheint sich über die Konsequenzen dieser Entwicklung keine Illusionen gemacht zu haben, denn er begann, einige seiner Grundstücke und Immobilien zu veräußern: Ende 1936 verkaufte er das Wohn- und Geschäftshaus Friedrichstraße 60 an einen Freund der Familie. Von dem Haus Robert-Bosch-Straße 110 hatte er sich schon vorher getrennt (es ist später bei einem Luftangriff vollständig zerstört worden). Andere Grundstücke veräußerte er in der Folgezeit zumeist im Freundes- und Bekanntenkreis, offensichtlich noch ohne den massiv spätestens 1938 einsetzenden Druck des Nazi-Regimes. Und doch ist davon auszugehen, dass Herr Dreifus nur noch einige Zeit die durch den Verkauf erlangten Barmittel für sich verwenden konnte, denn seit 1938 begann der NS-Staat systematisch, das Barvermögen der jüdischen Bürger „abzuschöpfen“:
Judenvermögensabgabe
Nach dem Attentat auf den deutschen Legationssekretär vom Rath (7.11.1938 in Paris) und dem anschließenden Novemberpogrom („Reichskristallnacht“) wurde den deutschen Juden eine sog. Judenvermögensabgabe auferlegt. Als „Sühneleistung“ für die „feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk“ mussten alle Juden mit einem Vermögen von über 5.000 RM zwanzig Prozent (1939 auf 25 Prozent erhöht) ihres Vermögens abführen. Bis Ende November 1939 wurden auf diese Weise knapp 1,2 Milliarden RM „abgeschöpft“.
Allein aufgrund dieser Maßnahme dürfte Hermann dreifus eine erhebliche Summe als „Judenvermögensabgabe“ gezahlt haben. Hinzu kamen in der Folgezeit weitere beträchtliche Sonderzahlungen. Aufgrund einer Anordnung vom 21. Februar 1939 mussten die Stuttgarter Juden alle Wertsachen aus Gold, Platin und Silber sowie Edelsteine an die Städtische Pfandleihanstalt abliefern. Obwohl hierzu im konkreten Fall keine Informationen vorliegen, ist davon auszugehen, dass Herr Dreifus von dieser Maßnahme stark betroffen war. Ohnehin hatte er praktisch keinen Zugriff mehr auf sein Barvermögen, denn ein „Sperrkonto“ schränkte das Verfügen über Geld massiv ein.
Ab dem 19. September 1941 musste der inzwischen 73jährige Hermann Dreifus – wie alle Stuttgarter Juden – den so genannten Judenstern tragen. Längst vorher war ihm als Juden verboten worden, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, Theater, Konzerte oder Kinos zu besuchen, der Reisepass war ebenso eingezogen worden wie der Führerschein, um nur einige der Repressalien zu nennen, mit denen jüdischen Bürgern der Alltag zunehmend zur Tortur gemacht wurde.
Dies alles mag Hermann Dreifus bewogen haben, am 20. September 1941 ein Testament aufzusetzen, in dem er Frau Edith Grünwald, die ihm über lange Jahre den Haushalt geführt hatte, zur Alleinerbin einsetzte. Nachdem sich innerhalb der jüdischen Gemeinde Gerüchte immer mehr verdichteten, dass alle Juden „in den Osten umgesiedelt“ werden sollten und sich in Stuttgart ganz konkret die erste große Deportation abzeichnete, nahm sich Hermann Dreifus am 13. November 1941 hier in Stuttgart das Leben. Wenige Tage später verschickte die „Jüdische Mittelstelle“ auf Weisung der Gestapo-Stabsleitstelle Stuttgart die Schreiben an die ersten 1.013 Juden aus Stuttgart, Württemberg und Hohenzollern, sich am 27. November 1941 auf dem Killesberg einzufinden. Am 1. Dezember 1941, frühmorgens gegen 3.oo Uhr setzte sich der Zug von über 1.000 Menschen vom „Sammellager“ auf dem Killesberg aus zum Inneren Nordbahnhof in Bewegung, wo sich dann gegen 9.oo Uhr der Sonderzug Da 33 nach Riga in Bewegung setzte. Von den 1.013 Juden überlebten die Deportation nur 43 Personen.
Bei der Aufarbeitung des Schicksals von Hermann Dreifus nach Ende des Krieges stellte sich heraus, dass die Alleinerbin Edith Grünwald geb. Müller die (uneheliche) Tochter von Herrn Dreifus war. Dadurch, dass dies während der Nazi-Zeit unbekannt geblieben war, überlebte Frau Grünwald unbehelligt Krieg und Shoah.
Recherche & Text: Dr. Helmut Rannacher, Initiative Stolpersteine Stuttgart-Nord.
Quellen: Staatsarchiv Ludwigsburg und Stadtarchiv Stuttgart.