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Interview mit Stolperstein-Erfinder Gunter Demnig: „Es ist wichtig, dass die jungen Leute von den Schicksalen erfahren“

Artikel von Jan Sellner und Michael Weißenborn
Stuttgarter Nachrichten – 10.08.2024 – 07:00 Uhr

Gunter Demnig am 16. Mai 2024 mit vier Stolpersteinen in der Uhlandstr. 14 A
(Foto: Ute Hechtfischer)

Der Kölner Künstler Gunter Demnig ist mit den Stolpersteinen bekannt geworden. Sie erinnern an Menschen, die von den Nazis verfolgt wurden. Im Gespräch mit unserer Redaktion im Rahmen unserer Stolperstein-Serie erklärt er, was ihn weiterhin antreibt.

Mehr als 109 000 Stolpersteine hat Gunter Demnig in Deutschland und im europäischen Ausland verlegt. Mehr als 1000 davon liegen in Stuttgart, wo es eine engagierte Stolperstein-Initiative gibt. Im Oktober und November stehen weitere Verlegungen an. Ein Gespräch mit dem Mann der Steine, die an Nazi-Opfer erinnern.

Herr Demnig, wie kamen Sie auf die Idee mit den Stolpersteinen?

Angefangen hat es mit einer Farbspur, mit der ich an die Deportation von 1000 Sinti und Roma aus Köln vom 6. Mai 1940 erinnern wollte. Das Ordnungsamt dachte, ich würde dafür Schultafelkreide verwenden, es war aber die beste Fassadenfarbe, die man haben konnte. Das gab natürlich Ärger und man wollte mir die Reinigungskosten in Rechnung stellen. Das wäre für die Stadt Köln dann aber doch peinlich geworden. Daraufhin hab ich den Antrag gestellt, an einigen Stellen die Spur dauerhaft zu machen. Sie war der Auslöser für die Idee, Namen von NS-Opfern zurückzubringen.

Wie ging es weiter?

1992 entstand eine Art Prototyp. Anlass war die Erinnerung an den sogenannten Himmler-Befehl, der sogenannte Zigeuner zu Zwangsarbeitern machte. Ich habe Verwaltungsvorschriften aus der Nazi-Zeit zusammengerollt, in eine Kartusche gesteckt und vor dem Rathaus in Köln in den Boden eingelassen. Parallel dazu habe ich mein Konzept in einem Artikel vorgestellt: „Kunstprojekte für Europa“. Untertitel: „Größenwahn“. Daraufhin kam ein Pfarrer auf mich zu und sagte: ,Du wirst niemals eine Million schaffen, aber man kann ja klein anfangen.‘ Der Anfang war schwierig.

Ist es heute auch noch schwierig?

Nein.

Stoßen Sie also nicht mehr auf Ablehnung?

Na ja, München weigert sich immer noch, aber auch dort haben wir inzwischen 200 Steine auf privatem Grund verlegt.

Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, lehnt Stolpersteine ab, weil die Opfer von früher so erneut mit Füßen getreten würden …

… das ist für mich ein vorgeschobenes Argument. Die Nazis haben sich nicht mit Rumtrappeln begnügt, sondern ein Vernichtungsprogramm betrieben.

Wie nahe gehen Ihnen die Schicksale, die sich mit den Namen auf den Stolpersteinen verbinden?

Der nördlichste Stein, den ich verlegt habe, liegt in der Nähe des norwegischen Hammerfest auf einer kleinen Insel. Da war ein einziger Jude versteckt. Der wurde verraten, und die Gestapo hat ihn abgeholt. Es gibt so viele Dinge, die unbegreiflich sind.

Das Steineverlegen, wie jetzt wieder in Stuttgart, wird also nicht zur Routine?

Überhaupt nicht. Einsetzen kann ich die Steine zur Not im Dunkeln. Aber die Schicksale sind jedes Mal bewegend. Und es ist wichtig, dass die jungen Leute davon erfahren. Für die machen wir das ja. Das ist eine andere, persönliche Art von Geschichtsunterricht. Die Jugendlichen lernen so auch etwas über die unterschiedlichen Opfergruppen. Neben den sechs Millionen ermordeten Juden gab es ja weitere acht Millionen Menschen, die aus anderen Gründen ermordet wurden.

Wie groß ist das Interesse bei Jugendlichen?

Kommt auf das Alter an. Meist sind es die Mädchen. Die Jungs haben oft irgendwas anderes im Kopf. In Bad Brückenau in Rheinland-Pfalz erzählte mir der Bürgermeister, dass sechs Schülerinnen mit einem fertigen Stolperstein-Plan in seine Sprechstunde gekommen seien, einschließlich eines Spendenkonzepts.

Von der Idee bis zur Verlegung – wie läuft das ab?

In der Regel sind es Heimat- und Geschichtsvereine, die Opferschicksale recherchieren und dann auf uns zukommen. Unsere Historiker prüfen jedes Schicksal noch mal nach, dann werden die Steine hergestellt und Touren geplant. Wichtig ist: Die Initiative muss immer aus den Orten selbst kommen, sonst heißt es, der will mit den Stolpersteinen nur Geld verdienen. Das ist nicht der Fall, aber dass die Steine etwas kosten, kann man sich ja vorstellen. Ich bin froh, dass ich den Preis von 120 Euro pro Stein noch halten kann, obwohl etwa der Messingpreis um 60 Prozent gestiegen ist.

Wie lange beträgt die Wartezeit?

In Deutschland zwischen 6 und 12 Monaten. Außerhalb von Deutschland zwischen 8 und 18 Monaten.

Wie viele Leute arbeiten bei Ihnen an dem Projekt?

Die ersten 7000 Stolpersteine hab ich selbst gemacht. Denen sieht man an, dass das Handarbeit war. Das wurde dann irgendwann zuviel. In unseren inzwischen vier Werkstätten arbeiten sechs Gestalter, einige machen das nebenher. 2014 habe ich eine Stiftung ins Leben gerufen mit heute fünf Festangestellten und einigen Freien.

Ist ein Ende abzusehen?

Nein, anfangs hab ich naiv gedacht, es müsste doch weniger werden. Dann wurde klar, dass es unterschiedliche Opfergruppen zu berücksichtigen gilt – neben Juden auch politische Verfolgte, Menschen mit Behinderungen oder Zwangsarbeiter. Die hatte ich anfangs nicht im Blick. Das gilt auch für Deserteure. In Sylt hat eine Archivarin auf die Schicksale von sechs jungen Matrosen aufmerksam gemacht, die sich in den Dünen versteckt hatten. Auf die hat man Hunde losgelassen. Das war dort lange Zeit kein Thema. Jetzt erinnern Stolpersteine an sie.

Sie wurden dafür kritisiert, dass Sie den Opferbegriff zu weit ausweiten würden. In Luxemburg wurden beispielsweise Stolpersteine für vier zwangsrekrutierte Wehrmachtssoldaten verlegt. Haben die Kritiker recht?

Ich finde es legitim, an diese Menschen zu erinnern. Und auch Überlebende können Opfer sein – wie jene Frau aus Augsburg, die drei Konzentrationslager überlebt hat. Auch für sie gibt es einen Stein, für den wir bisher aber leider keine Verlegungsgenehmigung haben.

Sie sind jetzt 76. Was treibt Sie an weiterzumachen?

Die Jugendlichen und das große Interesse von Nachfahren. Für viele von ihnen ist es wichtig, dass der Name wieder da ist. Einmal kamen bei einer Verlegung Angehörige aus fünf Ländern von drei Kontinenten zum ersten Mal wieder zusammen. Da gab’ s einen großen Taschentuchverbrauch.

Hat sich seit dem Überfall der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 für Ihr Projekt etwas verändert?

In Holland haben sechs Orte von Verlegungen mit Angehörigen Abstand genommen – offenbar aus Angst vor Anschlägen. Ich finde, das ist das falsche Zeichen. Es sollte gelten: Jetzt erst recht!

Wie oft kommt es zu Beschädigungen?

Von den rund 106 000 sind 900 gezielt zerstört worden. In Greifswald wurden einmal alle elf Stolpersteine herausgerissen – und das in der Nacht zum 9. November. Danach gingen so viele Spenden ein, dass ich dort 36 Steine neu verlegt habe. Man kann das nicht an Ost und West festmachen. Im Darmstädter Raum ist mir ähnliches passiert.

In Deutschland leben viele Menschen mit Migrationshintergrund. Manche von ihnen sagen, das ist eure Geschichte, nicht unsere Geschichte. Was sagen Sie?

Ich habe auch schon erlebt, dass viele wissen wollen, wie das damals passieren konnte. Einer sagte: Vielleicht sind wir ja irgendwann mal in derselben Rolle wie die Juden damals. Da gibt es schon ein Nachdenken.

Zur Person

Die Anfänge
Gunter Demnig, 1947 in Berlin geboren, studierte nach dem Abitur Kunstpädagogik und Industrial Design in Berlin, später auch Freie Kunst in Kassel. 1990 folgte die erste Aktion zur Erinnerung an die Deportation von Sinti und Roma aus Köln 1940. Drei Jahre später legte er den Entwurf zum Stolperstein-Projekt für die Opfer der NS-Diktatur vor.

Stolperstein-Projekt
1996 verlegte Demnig in Berlin den ersten Stolperstein – eine nicht genehmigte Aktion, die später legalisiert wurde. Seit 2000 finden Verlegungen auch außerhalb Deutschlands statt. Stolpersteine liegen in 31 Staaten Europas. Das Projekt mit inzwischen mehr als 109 000 verlegten Steinen, die jeweils über Spenden finanziert werden, gilt als das weltweit größte dezentrale Mahnmal. Demnig wurde dafür vielfach ausgezeichnet – unter anderem 2011 mit der Otto-Hirsch-Medaille in Stuttgart. Seit 2017 hat er sein Atelier und Museum im hessischen Alsfeld-Elbenrod. Am 26. November wird Demnig weitere Stolpersteine in Stuttgart verlegen. Sogenannte Gemeinschaftsverlegungen (ohne Demnig) finden am 18. September und am 30. Oktober statt.