Stuttgarter Nachrichten vom 28.04.2006:
Auf den Spuren einer geraubten Kindheit
Gedenkstein für den jüdischen Großvater führt einen Amerikaner zurück nach Stuttgart
Vor dem Gebäude Hauptmannsreute 10 im Stuttgarter Norden wird heute,10.30 Uhr, ein Stolperstein für Paul Kahn verlegt. Der Stein soll daran erinnern, dass der Fabrikant und Handelsrichter 1942 in Theresienstadt umgekommen ist. Zu dem Gedenken ist Enkel Henry Kandler mit Frau Judith aus den USA nach Stuttgart gereist.Seine vierte Reise nach Stuttgart ist für den 76-jährigen Psychiater aus New York auch eine Reise gegen das eigene Vergessen. Die ersten neun Jahre seiner Kindheit verbrachte er in Stuttgart, sieben Jahre davon im Haus Herdweg 45. Während seines Besuchs in Stuttgart wohnt Kandler wieder dort. Die Eigentümerin der Villa hat ihn in New York aufgespürt und eingeladen.Als Kandler in den 30er Jahren im Garten der Villa tobte, Brombeeren von Sträuchern naschte, hieß er noch Heinz. Diese Zeit sei blass geworden, sagt er. Doch es gibt Details, die sofort wieder da sind: Unter dem Nussbaum hat er gespielt. Das Zimmer mit Veranda teilte er sich mit dem jüngeren Bruder. Der grüne Kachelofen im Musikzimmer, in dem der Vater Cello und die Mutter Klavier spielten, ist weg. Wer seine Kameraden waren? Kandler weiß es nicht mehr. Aber er weiß, dass er seinen Lehrer mochte. “Er hat mir ein Zeugnis ausgestellt, obwohl er das nicht musste.” Bevor der Volksschüler Heinz zum Wechsel von der Falkertschule auf eine jüdische Schule gezwungen war, beurteilte dieser Lehrer den Drittklässler als “gut begabten Schüler, immer frisch und munter – oft etwas zu lebhaft, mit nervösen Anlagen”. Das Zeugnis hütet Kandler wie einen Schatz. Denn es gehört zu den raren Dokumenten, die ihm Zugang zu einer Zeit schaffen, die er lange verdrängt hatte.”Die Eltern haben versucht, unsere Kindheit zu behüten, und den Pogrom nicht an uns herangelassen”, sagt Kandler und bezeichnet seine Stuttgarter Zeit als schön – obwohl er dabei war, als die Gestapo seinen Vater verhaftete. Und obwohl er den Vater weinen sah, als die Nazis die Mechanische Leinenweberei Laichingen auf der Schwäbischen Alb übernahmen. Die Fabrik war seit Generationen in Familienbesitz. An diese Fakten erinnert sich Kandler zwar – nicht aber an den dazugehörigen Schmerz. “Es gibt zwei Möglichkeiten, sich von Leid nicht überwältigen zu lassen: Entweder man hält sich an Fakten und blendet die Emotionen aus. Oder man lässt die Emotionen zu und streicht Fakten.” Beides zuzulassen war für ihn lange zu schwer. Spricht er von sich als Bub, spricht er wie von einem Fremden.Mit neun Jahren wurde der sensible Junge endgültig aus seiner Kindheit vertrieben. Mit einem jüdischen Kindertransport wurden Heinz und sein Bruder wie rund 10 000 jüdische Kinder nach England gebracht. Dort waren die Buben bei verschiedenen, ständig wechselnden Pflegefamilien untergebracht. Als er zwölf ist, sagt man ihm, er sei nun selbst dafür zuständig, Eltern zu finden. Mit Kriegsausbruch galten der Junge aus Deutschland und seine Schicksalsgenossen in dem fremden Land als “feindliche Ausländer” – obwohl Heinz mittlerweile Henry hieß. Wenn er heute die Briefe seiner Eltern liest, zu denen es anfangs Kontakt gab, weiß er: “Ich war ein kleiner unglücklicher Junge.” Den Eltern gelang 1941 die Emigration in die USA. 1944 kamen die Söhne nach. Die Kahns lebten als Kandlers in Pennsylvania. Doch die Großfamilie gab es nicht mehr: Außer Großvater Paul Kahn war auch Großmutter Lolo Loeb ermordet worden – in Auschwitz.Als Psychiater arbeitet Henry Kandler mit Kindern und Jugendlichen. Die Berufswahl hat viel mit seiner Vergangenheit zu tun. Irgendwann, hofft Kandler, werden sich die Bruchstücke der Erinnerung zu einem Ganzen fügen, in dem er auch dem Schmerz Platz einräumen kann. Seine Frau ermutigt ihn zu der Auseinandersetzung.
Eva Funke