Menü Schließen

Erinnern an die Reichspogromnacht: Sprechende Steine

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung 
Jan Sellner – 09.11.2024 – 07:00 Uhr 


Jüngst verlegt: Stolpersteine für die jüdische Familie Schlüsselberg in der Silberburgstraße 88 im Stuttgarter Westen. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Stolpersteine sind eine eindringliche Mahnung an alle Demokraten. Wir müssen sie nicht nur hören, sondern auch danach handeln. Ein Kommentar von Jan Sellner zum 9. November.

Stolpersteine sind keine Stolperfallen. Nicht einmal im Entferntesten. Nur in übertragenem Sinne wünscht man sich, Passanten mögen über die plan ins Trottoir eingelassenen Betonwürfel des Künstlers Gunter Demnig stolpern, um so auf das Schicksal der Menschen aufmerksam zu werden, denen diese Gedenksteine gewidmet sind: Juden, politischen Gegnern, Menschen mit Behinderung, Zwangsarbeitern, Deserteuren, Sinti und Roma und anderen Menschen, die nicht in die Rassenideologie der Nationalsozialisten passten oder sich ihnen widersetzten.

Die Geschichte ist längst nicht auserzählt
Man kann unbewusst darüber stolpern, man kann diese Stolpersteine aber auch bewusst aufsuchen, wie es unsere Redaktion seit Jahresanfang in Stuttgart tut in der Absicht, Schicksale von Menschen in Erinnerung zu rufen, deren Namen in die Messingplatten eingestanzt sind. 52 Porträts werden es am Ende unserer auf ein Jahr angelegten digitalen Serie sein – jede Woche eines. Sie bilden einen Ausschnitt der mehr als 1000 Stolpersteine, die auf Betreiben der sehr aktiven Stuttgarter Stolperstein-Initiativen in der Landeshauptstadt bisher verlegt worden sind. Weitere werden folgen, denn die Geschichte der Ausgrenzung und Entrechtung von Bürgern, die Mitbürger waren, bis hin zu ihrer Deportation und Ermordung ist noch nicht auserzählt. Gerade an diesem 9. November, an dem sich die Reichspogromnacht zum 86. Mal jährt und an dem Gedenkfeiern stattfinden, ist es wichtig, den Blick auf sie zu richten – nicht aus Chronisten-, sondern aus Bürgerpflicht und tiefster Überzeugung.

Dies umso mehr als die Demokratie, die auf der Menschenwürde gründet, zunehmend unter Druck gerät und das Vertrauen in ihre Stabilität schwindet – auch durch das Verhalten maßgeblicher politischer Akteure. Für ihren Schutz müssen sich jetzt alle Demokraten zuständig fühlen. Es wäre fahrlässig, unverantwortlich und geschichtsvergessen, die Gefahren zu ignorieren. Ereignisse, wie die antijüdischen Ausschreitungen in Amsterdam sind ein alarmierendes Signal.

Stolpersteine sind keinesfalls nur stumme Zeugen dessen, was Menschen einander antun können und worin staatliches Unrecht münden kann. Vielmehr sprechen diese Steine zu uns – in dem Sinne, wie es jüngst Eleanor Reissa, Nachfahrin eines Nazi-Opfers, bei einer Verlegung in Stuttgart ausdrückte: „Sie sind eine leise Stimme des Widerstands gegen die Grausamkeiten des Faschismus, des Antisemitismus, des Rassismus und des Fanatismus“. Es ist heute wichtiger denn je, auf sie zu hören.