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Erinnerungskultur in Stuttgart: In Stuttgart liegen jetzt 1053 Stolpersteine

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Jan Sellner – 21.02.2025 – 17:46 Uhr

Frisch verlegt: Die drei Stolpersteine für Friederike, Ernst und Walter Engländer in der Cäsar-Flaischlen-Straße 37 im Stuttgarter Norden. Foto: Ferdinando Iannone

Seit Freitag gibt es fünf neue Stolpersteine in Stuttgart. Sie erinnern an Menschen, die Opfer des Nationalsozialismus wurden. Der Kölner Künstler Gunter Demnig und die Stolperstein-Initiativen mahnen damit zu Toleranz und Mitmenschlichkeit.

Eine Flöte erklingt, Vögel singen, ansonsten herrschte Stille an diesem strahlend schönen Vormittag in der Cäsar-Flaischlen-Straße im Stuttgarter Norden, die an den Stuttgarter Dichter Cäsar Flaischlen erinnert, von dem die bekannten Zeilen stammen „Hab Sonne im Herzen, ob’s stürmt oder schneit . . .“ Die Stille ist bemerkenswert bei so vielen Menschen, die im Halbkreis um das Haus mit der Nummer 37 stehen und in diesem Moment erkennbar vieles im Herzen bewegen.

Zwei Schulklassen aus dem Friedrich-Eugens- und dem Hölderlin-Gymnasium und etliche Anwohner und Interessierte verfolgen stumm, wie der Kölner Künstler Gunter Demnig, Initiator des Erinnerungsprojekts Stolpersteine, drei neue Gedenksteine in eine Vertiefung im Trottoir einsetzt. Sie sind der jüdischen Familie Engländer gewidmet: Friederike Engländer und ihren Söhnen Ernst und Walter. Nun blinken deren Namen auf den kleinen Messingtafeln wieder auf – vor dem letzten selbst gewählten Wohnort von Ernst Engländer, an dem auch seine Mutter Friederike und sein Bruder Walter vorübergehend Zuflucht fanden. Der älteste Bruder Otto hatte es rechtzeitig über England nach Amerika geschafft; er entging als einziger dem Nazi-Terror.

Das Gardinengeschäft floriert – bis die Nazis kommen
Die Engländers, erfahren die Schüler und die anderen Teilnehmer der Stolperstein-Verlegung, waren eine erfolgreiche Stuttgarter Unternehmerfamilie. Heinrich Engländer, der Mann von Friederike hatte in Stuttgart mit seinem Bruder Hermann ein Weißwaren- und Stickereigeschäft aufgebaut. 1901 gründen sie eine Gardinenfabrik in der Adlerstraße im Stuttgarter Süden; das imposante Fabrikgebäude steht heute noch. 1920, zehn Jahre nach dem Tod von Heinrich Engländer, steigen die drei Söhne Otto, Ernst und Walter in die Firma ein. Das Geschäft floriert – bis zur Machtübernahme der Nazis und dem von ihnen ausgerufenen Boykott jüdischer Geschäfte und Waren.

Es hilft den Brüdern nichts, dass sie alle drei im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatten und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden waren. Nach der Reichspogromnacht 1938 werden Ernst und Otto verhaftet und für einige Wochen in den Konzentrationslagern Dachau und Welzheim interniert. Das bedeutet auch das Ende der Firma. Sie wird liquidiert und die Familie faktisch enteignet. Die Fabrik in der Adlerstraße sowie eine ihr gehörende Weberei im sächsischen Lengenfeld müssen unter Wert abgestoßen werden. Ebenso das Haus in der Cäsar-Flaischlen-Straße.

Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen
Alle Porträts der Serie

Auch Schüler und Schülerinnen des Friedrich-Eugens- und des Hölderlin-Gymnasiums nahmen an der Verlegung in der Cäsar-Flaischln-Straße teil. Foto: Lichtgut/Ferdinando Iannone

Unter dem Druck der Nazis emigrieren die Brüder Walter und Ernst mit ihrer Mutter nach Amsterdam. Sie hoffen, von dort aus nach Amerika weiterreisen zu können. Als das nicht klappt richten sie ihre Hoffnung auf Kuba – vergeblich. Die weiteren Stationen sind Stationen in den Tod: Ernst wird zunächst ins Durchgangslager Westerbork gebracht und im August 1942 in Auschwitz ermordet. Friederike, die nach der Verschleppung ihres Sohnes Ernst psychisch schwer erkrankt, stirbt im Juni 1943, in Westerbork, Walter in einem Amsterdamer Krankenhaus – kurz vor der Befreiung.

Schülerinnen und Schüler zeigen großes Interesse
Die Geschichte geht den Anwesenden nahe. Joachim Binder, Geschichtslehrer am Friedrich-Eugens-Gymnasium, behandelt mit seiner neunten Klasse das Thema Nationalsozialismus. „Das Interesse der Schülerinnen und Schüler an dem Thema ist groß“, sagt er: „Besonders, wenn es einen persönliche Zugang gibt.“ Das merkt er auch bei der Beschäftigung der Schüler mit den Biografien jüdischer Mitschüler, die im Schularchiv lagern. Ähnlich Beobachtungen macht Rebecca Mahle, Geschichts- und Englischlehrerin am Hölderlin-Gymnasium, die mit Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 1 zu der Stolpersteinverlegung gekommen ist und hier ein Gedicht Martin Niemöllers zitiert, das die Aufforderung enthält, sich rechtzeitig einzumischen. Die Schüler sind berührt. „Für sie, die Jungen, machen wir das ja auch“, sagt Gunter Demnig.

Einen starken Eindruck macht auch die Rede eines Nachfahren der Familie Engländer: Paul Israel, der aus London angereist ist. Sein Großvater hatte ihn nach den Erfahrungen des Holocausts vor allen Deutschen gewarnt. Inzwischen hat Paul neben dem britischen auch den deutschen Pass. Ebenso seine Söhne Nathan und Usher. „Es war ein langer Weg bis dorthin.“ Ermutigt haben ihn Zeichen, wie sie die Stuttgarter Stolperstein-Initiativen setzen – in diesem Fall Susanne Stephan von der Initiative West und die Studentin Alisa Mopils, die das Schicksal der Familie recherchiert hat. In der Stolpersteinverlegung sieht Paul Israel „ein wundervolles Zeichen der Gerechtigkeit“.

Paul Israel, ein Nachfahre der Familie Engländer, ist aus London zu der Verlegung gekommen. Foto: Lichtgut/Ferdinando Iannone

Drei weitere Gedenksteine werden an diesem Freitag vor der Bundestagswahl verlegt. Einer für den Bankbeamten Heinrich Heuberger, der mit Frau und Tochter in der Sickstraße 18 im Stuttgarter Osten wohnte und unter einer Psychose litt. 1940 wurde er im Rahmen der „Euthanasie“-Aktion in Grafeneck ermordet. Ein weiterer Stolperstein, ebenfalls in der Sickstraße, erinnert an Amalie Mathilde Reif, die in der Hausnummer 55 lebte. Vergeblich versuchte sie mit ihrer Schwester nach Amerika zu fliehen. 1942 wurde sie, 75-jährig, ins Zwangsaltersheim Dellmensingen gebracht und nach dessen Auflösung von Stuttgart aus nach Theresienstadt. Zum letzten Mal taucht ihr Name in einer Meldung auf, in der es heißt, dass sie am 26. September 1942 „nach Osten zur Vergasung“ gebracht wurde.

Ein Stolperstein war bei Bauarbeiten abhanden gekommen
Für Elias Gideon, einem jüdischen Geschäftsmann, der in der Schickhardtstraße 35 wohnte und 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet wurde, ist bereits 2006 ein Stolperstein verlegt worden. Er ging bei Bauarbeiten verloren. Nun liegt dort ein neuer Stein. Schülerinnen und Schüler des Schickhardt-Gymnasium sind dabei, als er verlegt wird. Die Zahl der Stolpersteine in Stuttgart beläuft sich jetzt auf 1053.