Menü Schließen

Holocaust-Überlebender aus Stuttgart berichtet: „Meine Mutter hat mir das Leben gerettet“

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Hilke Lorenz – 18.10.2024 – 14:01 Uhr


Harry Wrightson vormals Heinrich Schlüsselberg lebt noch immer in England. Foto: StZN/Hilke Lorenz

Harry Wrightson würde nicht mehr leben, hätte seine Mutter den damals Siebenjährigen nicht nach der Pogromnacht im November 1938 in einen Zug nach England gesetzt. Der 92-Jährige erzählt, wie die Nazis seine Familie für immer zerstörten.

Er war ein stolzer großer Bruder, obwohl er selbst noch ein kleines Kind war. Ein Bild hält das fest. Darauf steht Harry Wrightson in kurzen Lederhosen und weißem Hemd. Er schaut in die Kamera. Vor ihm sitzt seine kleine Schwester in einem Kinderwagen. Kaum ein Jahr ist sie alt. Die Aufnahme ist undatiert, entstanden ist sie irgendwo auf der Straße. Vielleicht ja bei einem Sonntagsspaziergang in Stuttgart. „Ich habe Frida sehr gemocht“, sagt Harry Wrightson, wenn er sich an seine drei Jahre jüngere Schwester erinnert. „Sie hatte die gleichen roten Haare wie meine Mutter.“ Seine Stimme stockt. Wenn er von seiner Schwester und seiner Mutter Chana Schlüsselberg erzählt, spricht er von Menschen, die er im November 1938 zum letzten Mal gesehen hat. Ob er sich von seiner kleinen Schwester verabschiedet habe? Vermutlich. Aber erinnern kann er sich nicht. In seinem Stuttgarter Leben war Harry Wrightson ein Junge namens Heinrich Schlüsselberg. Die Schlüsselbergs sind eine jüdische Familie.


Heinrich und Frida Schlüsselberg Mitte der 1930er Jahre. Foto: privat

Viel gemeinsame Lebenszeit hatten Heinrich und seine Familie nicht miteinander. Seine Mutter Chana und seine Schwester Frida wurden im Frühjahr 1942 ins Durchgangslager Izbica deportiert und dort ermordet. Sein Vater blieb vorerst verschont, weil sein Vorgesetzter sich für ihn einsetzte. Aber 1943 wurde auch er nach Auschwitz deportiert. Es ist ein Wunder, dass er das KZ und den Todesmarsch überlebte und nach Stuttgart zurückkehrte.


Chana und Chaskel Schlüsselberg bei ihrer Hochzeit (Foto: privat)

Zum Abschied eine Schokolade
86 Jahre ist Harry Wrightsons Abschied von der Familie und Stuttgart jetzt her. Nur er weiß heute noch, welche Farbe das Haar seiner Schwester hatte. Die historischen Schwarz-Weiß-Fotografie unterschlägt das. Und wie es scheint, war er ein Mamakind. Eines, dem die Mutter beim erzwungenen Abschied am 17. November 1938 trotz knappen Geldes noch eine Tafel Schokolade zugesteckt hat. Er erinnert sich ganz genau, wie er mit einem kleinen Koffer mit dem Nötigsten aufgebrochen ist in sein neues Leben. Seine Mutter gab ihm seine Geburtsurkunde mit auf den Weg.

An diesem Tag habe sie ihn nachmittags zu Fuß von der Wohnung in der Silberburgstraße im Stuttgarter Westen zum Hauptbahnhof gebracht. „Ich weiß nicht, wer in dieser Zeit auf meine Schwester aufgepasst hat“, wundert er sich im Rückblick. „Ich war allein mit meiner Mutter unterwegs.“ Schnell habe er die Schokolade aufgegessen. Er sagt das noch immer mit schlechtem Gewissen. Lieber wäre es ihm gewesen, seine Mutter hätte die Schokolade für sich behalten. Für die Familiengeschichte der Schlüsselbergs ist der Mann, der nun das Foto von sich und seiner Schwester betrachtet, der einzige noch lebende Zeuge. Nur die schriftlichen Dokumente der Wiedergutmachungsakten und seine Erzählung können sie zum Leben erwecken. Und wahrscheinlich ist er auch einer der letzten Zeitzeugen, die von den Kindertransporten von Stuttgart nach England erzählen können.

Das tut der Mann nun in seinem Wohnzimmer in Ely, einem Städtchen unweit der britischen Universitätsstadt Cambridge gelegen. Die Wrightsons wohnen in einem roten Backsteinhaus mit Garten. Am 8. November wird der Hausherr hier mit seiner ein Jahr älteren Frau seinen 93. Geburtstag feiern. Der alte Mann erzählt eine Geschichte, die zeigt, dass die Nationalsozialisten nicht nur Menschen ermordeten, sondern auch Überlebende für immer voneinander entzweiten. Trotz allem wirkt Harry Wrightson versöhnt mit seinem Leben. „Um ehrlich zu sein, ich kann gar nicht sagen, was man mir gesagt hat, was da passiert. Vielleicht habe ich gewusst, dass England das Ziel sei“. Mehr aber mit Sicherheit nicht.

Er macht eine Pause, bevor er weitererzählt. Er versucht, sich in die Lage seine Mutter zu versetzen. Er selbst hatte als Schüler der jüdischen Schule in der Hospitalstraße am Tag nach der sogenannten Reichskristallnacht am 9. November 1938 die Überreste der in Flammen aufgegangenen Synagoge gesehen. Er weiß das so genau, weil am Vortag sein Geburtstag war. Sein Vater Chaskel wurde wie viele andere jüdische Männer verhaftet. Seine Mutter wusste nicht, wo er war, als sie alles daran setzt, ihren Sohn zu retten. Und der fragt sich nun, welch übermenschliche Energie seine Mutter, allein mit zwei Kindern, aufgebracht hat, ihn auf den Kindertransport zu schicken. Er weiß nicht, ob die Eltern längst gemeinsam diesen Plan geschmiedet hatten. „Wie muss sie sich gefühlt haben?“, er spricht den Satz nicht zu Ende. Sagt nur: „Sie hat mir das Leben gerettet.“

Kindertransport nach England
In einen ganz normalen Zug seien er und die 15 anderen Kinder gestiegen, in zwei für sie reservierte Kindertransport-Abteile. Ein Mädchen im Alter von 16 Jahren habe auf sie aufgepasst. „Ich war mit meinen sieben Jahren der Jüngste.“ In Frankfurt übernachtete die Gruppe. Andere jüdische Kinder kamen dazu. Am nächsten Tag ging die Fahrt weiter in Richtung Niederlande, von dort weiter mit der Fähre. „Am 18. November war ich in England.“ Kalt war es dort. Ein Doppeldeckerbus wartete auf sie und brachte sie in ein Feriencamp. Als die Kinder auf ihre Gastfamilien verteilt werden sollten, lag der Junge krank in Quarantäne. Schließlich ist aber auch er an der Reihe, kommt zu einem Ehepaar, das schon drei ältere Töchter hat. Anders als andere Kindertransportkinder, die berichten, nicht gut behandelt worden zu sein, zieht er offenbar das große Los. Die Wrightsons nehmen ihn wie einen Sohn auf, obwohl er am Anfang ein anstrengendes Kind gewesen sei. Aber wie anders hätte er auf den Verlust seiner Familie reagieren sollen.

Irgendwann kommt keine Post mehr
Der Junge, der kein Wort Englisch spricht, lernt die neue Sprache schnell. „Mit jedem neuen Wort habe ich ein deutsches Wort vergessen“, sagt er mit einem Lachen. Er packt die Möglichkeiten, die ihm das neue Leben bietet, beim Schopf. Es ist für ihn auch ein sozialer Aufstieg. Sein Vater Chaskel war auf Grund der Rassengesetze gezwungen gewesen, sein Geschäft aufzugeben. Harrys Erinnerung setzt ein, als die Jahre des Wohlstands bereits vorbei waren. Ein paar Briefe bekommt er aus Stuttgart von seiner Familie. Er habe zurückgeschrieben. Aber als sie ausbleiben, glaubt er nicht mehr daran, dass seine Eltern mit seiner Schwester kommen, um ihn wieder abzuholen. „Niemand hat das gesagt, aber alle waren überzeugt davon, dass sie tot sind.“ Aus Heinrich Schlüsselberg wird mit 21 Jahren Harry Wrightson, als er vor seiner Hochzeit den Namen seiner zweiten Familie annimmt.

Der Vater ist ein Fremder
Chaskel Schlüsselberg meldet sich 1947 mit einem Brief bei den Wrightsons. Für Harry alias Heinrich ist es ein Schock, als er erfährt, dass sein Vater lebt. Mit allem hat er gerechnet, aber nicht damit. Der Vater kommt nach England. Das Aufeinandertreffen ist für beide entsprechend verstörend. Chaskel Schlüsselberg spricht kein Englisch, sein Sohn kein Deutsch mehr. Es wird kein glückliches Wiedersehen. Chaskel will seinen Sohn zurück nach Deutschland holen. Für den ist der Vater ein Fremder. Er weigert sich mitzukommen. Noch heute spricht er von ihm nicht als Vater sondern als Charly.

„Ich habe nicht mehr den Anschluss an mein altes Leben gefunden“, sagt Chaskel Schlüsselberg dem Gutachter in seinem Wiedergutmachungsverfahren. Er wandert 1950 nach New York aus, heiratet wieder. Seine zweite Frau hat er im Displaced-Persond-Camp in Ulm kennengelernt. 1953 wird er noch einmal Vater einer Tochter. Als sie 14 ist, lernt sie ihren Bruder in England kennen. Regelmäßig verbringt sie die Ferien bei ihm und seiner Familie. Eleanor Reissa macht sich später als Schauspielerin (etwa in der ARD-Serie „Die Zweiflers“), Autorin und Sängerin einen Namen. Auf ihre Initiative hin werden am 30. Oktober, 11.45 Uhr vor der letzten Wohnung der Schlüsselbergs in der Silberburgstraße 88 vier Stolpersteine verlegt – eine Familienzusammenführung nach 86 Jahren.


Harry Wrightson mit seiner Schwester Eleonar Reissa. Beide sind die Kinder von Chaskel Schlüsselberg, der den Holocaust überlebt hat. Foto: Hilke Lorenz