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Neuer Stolperstein in Stuttgart-Botnang: „Das Gerhardle ist tot“

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung 
Theresa Schäfer – 24.11.2024 – 18:00 Uhr 


Karl Eggensperger war ein begeisterter Hobbyfotograf und hat seine Familie – Mathilde, Ruth und Gerhard – vermutlich im Frühjahr 1941 gemeinsam abgelichtet. Foto: privat/Karl Eggensperger


Gerhard Eggensperger wird 1940 mit dem Downsyndrom geboren. Im Deutschland der NS-Zeit ist das ein Todesurteil. Mehr als 80 Jahre später recherchiert eine seiner Nichten sein Schicksal. Nun wird in Botnang ein Stolperstein für ihn verlegt.

Das letzte Bild: Der Vater steht in der Wohnungstür, seinen kleinen Sohn im Arm. Die fünfjährige Ruth versteht nicht, wohin er ihren Bruder Gerhard bringt. Sie hört ihre Eltern von einer Behörde sprechen, die angeordnet hat, dass der pausbäckige gut Anderthalbjährige zur Beobachtung in eine Klinik kommen solle. Dass die Stimmung bedrückend war, daran erinnert sich Ruth noch Jahrzehnte später. „Vater hat noch gewunken.“ Dann seien die beiden gegangen.

Keine vier Wochen später ist Gerhard Eggensperger tot. Ermordet von den Nationalsozialisten, die die systematische Tötung von geistig oder körperlich behinderten Menschen beschönigend Euthanasie nennen. Gerhard kommt am 9. Februar 1940 in Stuttgart zur Welt. Er hat das Downsyndrom, ein Chromosom ist dreimal vorhanden. „Gerhard war gesund, er hat gelacht. Er hatte nur andere Augen“, sagte Ruth später, wenn sie ihrer Familie von ihrem Brüderchen erzählte. Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt die Botnanger Familie im Grünen: Gerhard hat ein adrettes helles Mäntelchen an, schicke Knöpfgamaschen über den Schuhen und lächelt wie seine große Schwester in die Kamera des Vaters. Die Mutter, Mathilde, aber schaut woanders hin – sie strahlt, liebevoll, glücklich, stolz, den Jungen in ihrem Arm an.

Gerhard Eggensperger war Tina Z.s Onkel. Das Schwarz-Weiß-Foto hing gerahmt in ihrem Elternhaus. Als Tinas Mutter zur Welt kam, war Gerhard schon drei Jahre tot. Über sein Schicksal wurde in der Familie zwar nie geschwiegen, aber auch nicht wirklich gesprochen. Als Tina Z. in diesem Frühjahr die Gedenkstätte Grafeneck auf der Schwäbischen Alb besucht, erwartet sie, den Namen ihres Onkels auf der Liste der Opfer zu entdecken. Schließlich wurden dort über 10 000 Menschen mit geistiger Behinderung oder einer psychischen Erkrankung ermordet. Doch sie findet ihn nicht. „Da habe ich begonnen nachzuforschen.“


Die Eggenspergers lebten in Westheim, einer Botnanger Arbeitersiedlung. Foto: Stadtarchiv Stuttgart / / 101-FN250-11772

Der Postbeamte Karl Eggensperger muss seinen Sohn im Oktober 1941 ins städtische Kinderkrankenhaus in der Türlenstraße bringen. Was Gerhard und vielen anderen Stuttgarter Kindern anschließend widerfahren ist, hat Karl-Horst Marquart über Jahre recherchiert. „Die Kinder wurden ihren Familien regelrecht weggenommen“, sagt Marquart, der früher Arzt im Gesundheitsamt war und sich seit langem für die Stolperstein-Initiative in der Landeshauptstadt engagiert. Ärzte und Hebammen meldeten Kinder mit Behinderungen, „war man erst einmal im System, gab es praktisch kein Entrinnen.“

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Manche Kinder werden noch in der „Kinderfachabteilung“ in der Türlenstraße getötet. Gerhard jedoch wird in die Heilanstalt Eichberg im hessischen Eltville am Rhein gebracht. Angekommen ist das Kleinkind dort am 20. Oktober 1941. Nicht einmal vier Wochen später, am 16. November, stirbt der Bub. Seine letzten Lebenswochen müssen schlimm gewesen sein. „Die Menschen am Eichberg wurden mit noch weniger als dem Nötigsten versorgt“, erzählt Peter-Michael Eulberg, der die Geschichte des Euthanasieprogramms in der Heilanstalt recherchiert hat. „Man ließ sie verwahrlosen und verhungern.“ Die Kinder seien „in Zellen, in Kellerlöchern wie im Mittelalter“ dahinvegetiert. Wer dieses Martyrium überlebte, wurde schließlich mit einer Überdosis Luminal getötet. Das Schlafmittel setzt alle Körperfunktionen außer Kraft, der Tod tritt durch eine Lungenentzündung ein.

Noch an Gerhards Todestag schickt der Direktor der Landesheilanstalt Eichberg einen Brief nach Stuttgart: „Wir müssen Ihnen leider mit dem Ausdruck unseres Beileides mitteilen, dass Ihr Söhnchen Gerhard Eggensperger am 16.11.1941, 15 Uhr, ganz plötzlich an Masern verstorben ist. Die Beerdigung ist auf Freitag, den 21.11.1941 festgesetzt und findet um 16 Uhr auf dem hiesigen Anstaltsfriedhofe unentgeltlich statt.“ Ihrer älteren Tochter sagen die Eltern: „Das Gerhardle ist tot.“

Den Eltern lässt der Tod ihres Sohnes keine Ruhe
Das nächste Bild, an das Ruth sich erinnert, ist eine Szene auf dem Botnanger Friedhof. Sie steht mit ihren Eltern in der Aussegnungshalle an einem Kindersarg. Tina Z. sagt, in der Familie habe man sich später erzählt, Mathilde und Karl Eggensperger hätten darauf bestanden, dass ihr Sohn daheim beerdigt wird. Und auch mit der offiziellen Todesursache geben sich die beiden nicht zufrieden. Sie schreiben die Landesheilanstalt wenige Wochen nach Gerhards Tod an und bekommen daraufhin diese Antwort: „Auf Ihre Anfrage wird Ihnen mitgeteilt, dass es sich bei Ihrem Söhnchen um eine mongoloide Idiotie gehandelt hat. Es ist eine charakteristische Erscheinung, dass solche Kinder gerne Erkältungs- und Infektionskrankheiten anheimfallen (…).“ Weiter heißt es in dem Brief, „das Kindchen“ hätte nie „das Intelligenzalter eines normalen 5-jährigen Kindes erreichen können und hätte somit nie eine Schule besuchen können.“ Die Mühlen der NS-Bürokratie mahlen indes noch weiter: Drei Monate später fordert das Stuttgarter Wohlfahrtsamt 67,50 Reichsmark von den Eggenspergers – für Gerhards Verpflegung auf dem Eichberg.

Das Schicksal ihres Sohnes lässt die Eltern auch nach dem Ende der Naziherrschaft nicht los. 1948 schicken sie alle Unterlagen ans Stuttgarter Polizeipräsidium. Von dort geht der Fall ans Amtsgericht Münsingen – und versandet dort vermutlich. Soweit Tina Z. weiß, ist es die letzte Nachricht, die ihre Großeltern von den Behörden erhalten haben.

„Gerhards Tod war ein Trauma der ganzen Familie, eine offene Wunde“, sagt seine Nichte. „Wie schlimm muss es sein, ein Kind herzugeben. Ich stelle mir das fürchterlich vor.“ Tina Z.s Mutter, die 1944 zur Welt kam, bekam den Namen Gerda. „Gerhard und Gerda – das war kein kleines Päckchen, was sie da zu tragen hatte.“ Dass ihre Töchter von Gerhard wissen, sei ihr immer wichtig gewesen.

„Manche Familien haben bis heute Schuldgefühle“
39 Stuttgarter Kinder, hat Karl-Horst Marquart ermittelt, wurden auf dem Eichberg ermordet. An nur einen Bruchteil von ihnen erinnert ein Stolperstein. Auf vielen Familien laste die Scham bis heute schwer, sagt Marquart. „Manche haben ja gedacht, ihr Kind kommt an einen Ort, wo ihm geholfen wird. Und andere waren vielleicht auch erleichtert, dass ihnen die Last der Versorgung eines behinderten Kindes abgenommen wurde.“ Gerne würde die Initiative mehr Stolpersteine für die Opfer des NS-Euthanasie-Programms verlegen, aber häufig lehnten die Nachfahren ab. „Manche Familien haben bis heute Schuldgefühle“, sagt Marquart. Sie schweigen lieber – und verdrängen.

Tina Z., ihre Schwester und ihre Cousine entschieden sich anders. In Absprache mit den beiden anderen trug Tina Z. alles zusammen, was sie über Gerhards kurzes Leben und seinen Tod finden konnte und wandte sich damit an Jörg und Ingeborg Gaiß von der Stolperstein-Initiative in Botnang. „Das bewegt einen sehr, wenn man daran denkt, dass so ein unschuldiger kleiner Bub ermordet wurde, weil er für die Nazis ‚unwertes Leben‘ war“, sagt Jörg Gaiß. Am 26. November verlegt der Künstler Gunter Demnig den Stolperstein in der Beethovenstraße 26. Ihre Mutter, glaubt Tina Z., hätte das gefreut. „Gerhards Schicksal soll nicht in Vergessenheit geraten“, sagt sie. „Für uns ist die Verlegung auch ein Abschluss.“