Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Annika Mayer 05.05.2024 – 19:03 Uhr
Wilhelm Wolf und seine Tochter Anita hinter ihrem Haus in der Kapfenburgstraße in Feuerbach. Foto: privat/Walter Nägele
Der Textilhändler Wilhelm Wolf wurde 1943 in Stuttgart wegen Hehlerei und Bestechung hingerichtet. In einem haarsträubenden Prozess wurden er und sein Bruder am Stuttgarter Sondergericht zum Tode verurteilt.
Mindestens 423 Mal fiel das Messer der Guillotine zwischen 1933 und 1944 im nördlichen Lichthof des Stuttgarter Justizgebäudes und beendete jedes Mal ein Menschenleben. Die Personen, die dort starben, waren Opfer der NS-Justiz – einer Justiz, die dem nationalsozialistischen Terror diente. Rechtsstaatliche Prinzipien wurden mit Füßen getreten und im Laufe des Krieges wurden die Strafen immer härter. In dem Lichthof starben Menschen, weil sie an politischen Aktionen gegen die NS-Herrschaft beteiligt waren, weil ihnen Sexual- oder Gewaltdelikte angelastet wurden, oder weil sie Deserteure waren. Der Großteil der Opfer wurde allerdings für Wirtschaftsdelikte hingerichtet. So wie Wilhelm Wolf. Der Stuttgarter Textilhändler war 45 Jahre alt, als er unter der Guillotine starb. Er und sein Bruder Karl Wolf wurden 1943 wegen Hehlerei und Bestechung sowie Verfehlungen im Sinne der Kriegswirtschaft zum Tode verurteilt.
Wilhelm Wolf. Foto: privat/Walter Nägele
An Wilhelm Wolf erinnert seit 2023 ein Stolperstein vor dem Haus Nummer 75 in der Kapfenburgstraße in Feuerbach, seinem früheren Wohnsitz. Über das Leben des Textilhändlers ist nur wenig bekannt. Wolf wurde am 28. August 1898 in Pforzheim-Dillstein geboren. 1935 heiratete er die zwölf Jahre jüngere Ellen Schembs, ein Jahr später erblickte die Tochter Anita das Licht der Welt. Wolf lebte mit seiner Familie im Haus seiner Schwiegereltern in der Kapfenburgstraße. Das wenige, was man über ihn als Menschen weiß, zeichnet ein Bild eines zurückhaltenden, freundlichen Mannes. „Wir haben von Zeitzeugen erfahren, dass er wenn er zur Arbeit fuhr, Angestellte oder Leute aus der Nachbarschaft mitgenommen hat“, sagt Hildegard Wienand. Sie und ihr Ehemann Heinz Wienand von der Stolperstein-Initiative Feuerbach/Weilimdorf haben das Schicksal von Wilhelm Wolf recherchiert.
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In dem Haus mit dem Turm lebten Wilhelm Wolf und seine Familie. Foto: Stadtarchiv/101-FN250-8345
Mit seinem elf Jahre jüngeren Bruder Karl war Wilhelm Wolf im Textilgeschäft tätig. Und das recht erfolgreich. Die Wolfs waren an mehreren Firmen beteiligt in Bad Cannstatt, Reutlingen und Ebingen. 1943 gerieten sie in das Visier der NS-Justiz, am 5. Mai wurde Wilhelm Wolf verhaftet und kam in das Gefängnis in der Olgastraße.
An Wilhelm Wolf wird ein Exempel statuiert
Die Brüder standen im Verdacht, illegale Geschäfte mit sogenannten Spinnstoffpunkten, also Berechtigungsscheinen für Textilien, betrieben zu haben. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden Lebensmittel und auch Textilien rationiert, sie konnten nur mit Bezugsscheinen erworben werden. Betrügereien und Tauschhandel mit Bezugsscheinen standen unter Strafe. Die Brüder waren offensichtlich nicht unschuldig: Sie hatten unterschlagene Punkte von einem Angestellten des Wirtschaftsamtes, Joseph Dollinger, erhalten und vermutlich auch Textilien ohne Bezugsscheine erworben.
Hildegard und Heinz Wienand von der Stolperstein-Initiative Feuerbach/Weilimdorf. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko
Im sogenannten „Punkteschieberprozess“ wurden die beiden verurteilt. Dieser war letztlich ein politisches Verfahren, in dem die Brüder der NS-Justiz als Lückenbüßer dienten. Im Visier stand eigentlich Joseph Dollinger als Drahtzieher. Gegen ihn sollte ein großer Schauprozess geführt werden. Doch weil er kurz vor Prozessbeginn verstarb, nahm man die nächstbesten als Ersatz: Wilhelm Wolf und seinen Bruder. An ihnen wurde ein Exempel statuiert.
Keine faire Chance vor dem Sondergericht
Am 6. Oktober standen sie vor dem Stuttgarter Sondergericht. Die Sondergerichte waren Instrumente des NS-Terrors. Mit beschleunigten Verfahren sollten sie gegen politische Gegner und Regimekritiker vorgehen und sie unverhältnismäßig hoch bestrafen. Gegen die Urteile konnten keine Rechtsmittel eingereicht werden. Die Kompetenzen der Sondergerichte wurden immer mehr ausgeweitet, seit Kriegsbeginn wurden dort auch Straftatbestände wie Kriegswirtschaftsverbrechen oder sogenannte Rundfunkverbrechen, also das Hören von ausländischen Sendern, verhandelt. Vorsitzender des Stuttgarter Sondergerichts war Hermann Cuhorst. Er war für rund 100 Todesurteile verantwortlich, selbst für kleinere Vergehen.
Eine faire Verhandlung gab es auch für die Brüder Wolf nicht, stattdessen waltete pure Willkür. Richter Cuhorst führte nicht einmal eine genaue Beweisaufnahme durch, diese war nach einem Tag abgeschlossen. „Wenn es ein größeres Verbrechen gibt, dann wird normalerweise eine lange Beweisaufnahme gemacht mit allen Details. Das war Cuhorst aber völlig egal. Die Verhandlung ging nur ganz kurz“, sagt Hildegard Wienand. Schon vor der Urteilsverkündung stand das Schicksal der Brüder fest: „Dort steht sie schon“, habe Cuhorst gesagt – gemeint war die Guillotine.
Als „Volksschädlinge“ zu Tode verurteilt
Auch wenn die Brüder nicht unschuldig waren, ihre Vergehen rechtfertigten keine so grausame Strafe. „Dieses Verbrechen hätte sicher eine Bestrafung zur Folge gehabt, aber zu einer Todesstrafe hätte es niemals geführt“, sagt Hildegard Wienand.
Hermann Cuhorst erklärte Wilhelm Wolf und seinen Bruder am Sondergericht kurzerhand zu „Volksschädlingen“. Nur auf diesem Wege war ein Todesurteil möglich, wissen Hildegard und Heinz Wienand aus ihrer Recherche. Auch der Staatsanwalt bezeichnete sie im Prozess etwa als „Volksschädlinge übelster Sorte, die die Versorgung einer ganzen großen Stadt gefährdeten und als Kriegswirtschaftsverbrecher“. So zitierte ihn der NS-Kurier in einem Artikel über die Verhandlung.
Der Hauptverteidiger, Rechtsanwalt Hanns Stock, versuchte sich nach dem Prozess noch für die Brüder einzusetzen, doch die Gauleitung von Württemberg drängte auf eine schnelle Exekution. Wilhelm Wolf wurde zusammen mit seinem Bruder am 20. November 1943 enthauptet.
Seine Tochter Anita war sieben Jahre alt, als ihr Vater starb. Die Familie hatte nach seinem Tod nicht nur mit dem Schmerz zu kämpfen. Mit dem Todesurteil wurde auch das ganze Vermögen eingezogen. Dazu kam das „Gerede hinter vorgehaltener Hand so nach dem Motto, da wird schon etwas dran gewesen sein“, erklärt Hildegard Wienand. Das haftete der Familie an. Die Tochter, die bis vor einigen Jahren in dem Haus der Familie in der Kapfenburgstraße lebte, starb 2022 – ein Jahr, bevor ihr Vater seinen Stolperstein bekam. Über ihn und die Vergangenheit habe sie zu Lebzeiten wenig gesprochen, wissen die Wienands. Wilhelm Wolfs Name ist heute auf einem Mahnmal für Opfer des Nationalsozialismus auf dem Feuerbacher Friedhof verewigt.
Eine Inschrift erinnert an die Opfer der NS-Justiz
Dass Wilhelm Wolf und sein Bruder großes Unrecht widerfahren war, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auch offiziell bestätigt. Der Textilhändler wurde kurz nach dem Krieg zu den „übermäßig Bestraften“ gezählt. 1951 wurde das Todesurteil gerichtlich aufgehoben und das eingezogene Vermögen wieder freigegeben. Der Prozess der Wiedergutmachung zog sich für Ellen Wolf und Tochter Anita jedoch bis in die 1970er Jahre. Auch wenn nationalsozialistische Unrechtsurteile zwischen 1945 und 2009 aufgehoben wurden, blieben die Täter – Staatsanwälte und Richter, die Todesurteile beantragt oder gefällt hatten – unbehelligt. Sie wurden nie rechtskräftig verurteilt. Auch Hermann Cuhorst wurde für seine Todesurteile nicht belangt.
Der Stolperstein von Wilhelm Wolf. Foto: Annika Mayer/Annika Mayer
An die Menschen, die unter der Guillotine im Lichthof des Justizgebäudes starben, erinnert seit 1994 eine Inschrift am Treppenaufgang: „Den Opfern der Justiz im Nationalsozialismus zum Gedenken. Hunderte wurden hier im Innenhof hingerichtet. Den Lebenden zur Mahnung“. Seit 2019 gibt es dort außerdem eine Dauerausstellung zur NS-Justiz in Stuttgart.