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Stolperstein in Stuttgart-Nord: Der verhinderte Attentäter endet unterm Fallbeil

Artikel von Andrea Kachelrieß
Stuttgarter Zeitung – 18.08.2024 – 18:00 Uhr


Helmut Hirsch, 1916 in Stuttgart geboren, starb am 4. Juni 1937 in Berlin-Plötzensee unterm Fallbeil. Sein Grab befindet sich auf dem Waldfriedhof. Foto: Brandeis/Archiv

Helmut „Helle“ Hirsch ist der erste Amerikaner, den die Nationalsozialisten hinrichten. Der jüdische Student war unterwegs zu einem Bombenattentat in Nürnberg, als er verhaftet wurde. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen“.

Er wurde als amerikanischer Staatsbürger geboren, emigrierte 1935 nach dem Abschluss des Dillmann-Gymnasiums mit seiner Familie nach Prag, um dort Architektur zu studieren – und doch fand Helmut Hirsch auf der vermeintlich sicheren Seite keine Ruhe. Der Stuttgarter Jude wurde als 21-jähriger Student zum frühen Opfer des Nationalsozialismus. Die am eigenen Leib erlebten Einschränkungen hatten dem jungen Mann ausgereicht, um sein Leben für die Freiheit aller zu riskieren. Was ihm widerfuhr, taugt als Filmstoff.

„Im Widerstand verhaftet 20.12.1936. Enthauptet 4.6.1937 Berlin-Plötzensee“ steht auf dem Stolperstein in der Seestraße 89. Heute ragen hier nach dem Krieg erstellte Wohnblöcke monoton auf. Doch als die Hirschs 1923 einzogen, war die obere Seestraße ein gutbürgerliches Wohnquartier; in der begehrten Hanglage gab es schmucke Gründerzeithäuser mit großzügig aufgeteilten Wohnungen. In der Nachbarschaft der Familie Hirsch, zu der neben Helmut seine um ein Jahr jüngere Schwester Katie gehörte, wohnte zum Beispiel der jüdische Fabrikant Leo Mayer, dessen Firmengelände in Feuerbach im Zuge der Zwangsarisierung 1938 an Bosch verkauft wurde.

Zwangsarisierung, das 1939 erlassene Gesetz über die Mietverhältnisse, das andere Juden in die Häuser jüdischer Besitzer in der Seestraße einquartierte, der Judenladen, der 1941 in der Seestraße 39 eröffnet wurde und einzige legale Versorgungsquelle der jüdischen Bevölkerung in der ganzen Stadt war: In der Straße im Stuttgarter Norden verdichten sich die Verfolgungsmechanismen der NS-Diktatur. Vielleicht hat sie Helmut Hirsch vorausgeahnt, als er sich am 20. Dezember 1936 von Prag aus für ein Attentat zum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg aufmachte. Aber bereits am nächsten Tag wurde er bei einem Zwischenstopp von der Gestapo in seiner Heimatstadt Stuttgart verhaftet. Spitzel kannten jeden seiner Schritte.

Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen
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Im Ersten Weltkrieg wurden die US-Pässe der Hirschs eingezogen
Dass Helmut Hirsch am 27. Januar 1916 in Stuttgart zur Welt kam, während die Eltern eigentlich bis 1919 in Lothringen lebten, hat sicherlich mit der Herkunft seiner ebenfalls hier geborenen Mutter zu tun. Hirschs Vater, ein jüdischer Ingenieur, stammte aus Böhmen, war 1903 in die USA emigriert und hatte dort bis 1910 als amerikanischer Staatsbürger gelebt. Den in Stuttgart geborenen Sohn ließen die Eltern auf dem amerikanischen Konsulat registrieren; doch während des Ersten Weltkriegs wurden die US-Pässe der Hirschs eingezogen. Da die deutsche Verwaltung sie weiterhin als Amerikaner betrachtete, lebten die Hirschs in Stuttgart mit dem Status staatenlos.

Wie sehr hat das den jungen Helmut geprägt? Auffallend ist die Entwicklung, die er im Teenageralter machte. Als Kind war er ein „zarter, empfindlicher Junge“, wie die Schwester später notierte. „Sein Glück war, dass er seine Stimmungsmomente ausnützen konnte in künstlerischem Schaffen: Er zeichnete, malte, schnitzte und modellierte schon als kleiner Junge leidenschaftlich.“

Für die Verwandten bastelte Helmut Bücher mit eigenen Gedichten und Bildern. Einige davon haben sich im Nachlass erhalten, den seine Schwester Katie der amerikanischen Brandeis University vermachte. Neben dem romantischen Gedicht „To The Slavic Earth in Autumn“ (An die slawische Erde im Herbst), das Helmut Hirsch seiner Freundin Vally Petrová widmete, findet sich auch das Schwäbische „Maidle ruck, ruck, ruck!“. „Maidle ruck, ruck, ruck/An meine grüne Seite,/I han de gar so gern/I kann de leide“ reimte Helmut Hirsch und malte dazu einen feisten Soldaten mit Pickelhaube, der eine verlegene Frau auf einer Parkbank zum Näherrücken nötigt.

Helmut Hirsch selbst fand Gemeinschaft in der Deutschen Jungenschaft vom 1. November 1929, kurz dj.1.11 genannt, der er als 15-Jähriger beitrat. Den Jungenbund hatte der Stuttgarter Autor Eberhard Koebel im Zuge der deutschen Jugendbewegung gegründet, die dem Stadtleben den Aufbruch in die Natur entgegensetzte. Helmut Hirsch nahm den Fahrtennamen Helle an, der sich auch auf dem Stolperstein findet. Seine Schwester fasste den neuen Idealismus ihres Bruders so zusammen: „Er sammelte Klassenkameraden in einem Verein, der neben romantischem Indianerleben auch geistige Förderung geben sollte.“ Die Begeisterung des Jungenbunds für Kunst, Literatur, fernöstliche Philosophie kam Helmut Hirschs Interessen entgegen. Auch Hans Scholl, Mitbegründer der „Weißen Rose“, war zeitweise Mitglied der dj.1.11.

Die Machtübernahme der Nazis stellte die Jungenbünde in Frage, sie gehen zum Teil in der Hitlerjugend auf. Helle Hirsch, auf den die Jungenschaft großen Einfluss hatte, ist als Jude – wie auch beim Studium – außen vor. Zu seinem Widerstand gegen das „System Hitler“ hat möglicherweise die Verhaftung Koebels 1934 wegen „kommunistischer Zersetzung“ zusätzlich beigetragen. Auch nach dem Umzug nach Prag hielt Hirsch engen Kontakt mit seinen Freunden aus der dj.1.11. Deren Gründer stellte in Prag die Verbindung zu Otto Strasser her, dem Führer der Schwarzen Front, einem von der NSDAP abgespaltenen Kampfbund mit sozialistischer Agenda.

„Strasser war ein Gegner Hitlers, doch leider war sein Glaube, er könne das deutsche Volk zum Sturz Hitlers aufrütteln, naiv und gefährlich.“ So schätzt die Brandeis University in ihrer Biografie Hirschs im Rückblick dessen Prager Umfeld ein. Reichlich naiv scheint einem aus heutiger Perspektive das, was Strasser mit dem Attentat-Azubi Helle Hirsch vorhatte: Als Jude sollte er ein Zeichen gegen die Nazis setzen und während der olympischen Spiele im Sommer 1936 einen Bombenanschlag auf das Berliner Stadion oder alternativ auf die Redaktion des „Stürmer“ verüben.

Helmut Hirsch sah sich, wie er notierte, in der Pflicht „für die Zukunft der deutschen Jugend gegen Adolf Hitler und sein System“ zu kämpfen. Doch unschuldige Opfer wollte der junge Attentäter vermeiden, das schreibt die Zeitschrift „Politik & Unterricht“ in einer dem Widerstand im Südwesten gewidmeten Ausgabe. So kam es, dass eine Säule auf dem Reichstagsparteitagsgelände in Nürnberg als Ziel für einen eher symbolischen Sprengstoffanschlag in den Fokus rückte.

Spitzel verrieten ihn an die deutschen Behörden
Wie sich nach der Verhaftung des Bombenboten herausstellte, war die Zündschnur so kurz, dass Helmut Hirsch, ohne es zu wissen, sein Leben riskiert hätte. Er wähnte sich auf der sicheren Seite. „Liebe Eltern, diesen Brief bekommt ihr, wenn mir auf der Fahrt nach Deutschland zufällig etwas passieren sollte, was ziemlich ausgeschlossen ist.“ So lautet der Text in einem von ihm für den Notfall deponierten Schriftstück. Doch Spitzel hatten seine Pläne vermutlich schon aus der Prager Zentrale der „Schwarzen Front“ an die deutschen Behörden verraten.

Über die Worte an seine Eltern hat Helmut Hirsch ein Zitat gestellt, das seine Motivation erahnen lässt. Darin ist die Rede von Heldentum und den Gefühlen, die es auslöst. Es habe eine eigene Farbe, schreibt Hirsch, „krasser und greller, kristallklare Höhenluft umgibt die Gehirne. Traumlos, rauschlos ist dies“. Die Folgen seiner Tat sind Helmut Hirsch bewusst, er schreibt: „Ich weiß ganz genau, was ich Euch antue, und ich mache es nicht leichtsinnig, das wisst ihr.“

„König über sich selbst sein“, steht auf seinem Grabstein
Wegen der Vorbereitungen des Anschlags musste er die Eltern schon im Sommer anlügen. „Es hat mich jedes Mal geekelt, aber es ging nicht anders. Auch jetzt bin ich nicht Skifahren“, schreibt er am 10. Dezember 1936. Dem verhinderten Attentäter wird im März 1937 vor dem Volksgerichtshof in einer geheimen Sitzung der Prozess gemacht. Ruhig und unerschütterlich habe er zu seiner Tat gestanden, vermerkt die Brandeis-Biografie. Sein Gnadengesuch wird abgelehnt. Auch der Versuch der Eltern, über die amerikanische Regierung und deren Botschafter Hitler zu einer Begnadigung zu bewegen, waren vergeblich. Da Helmut Hirsch im Zuge dieser Bemühungen die US-Staatsbürgerschaft zurückerhalten hatte, war er der erste Amerikaner, den die Nationalsozialisten hinrichteten. Er starb am 4. Juni 1937 unterm Fallbeil, „König über sich selbst sein“ steht auf seinem Grabstein.

Der Stolperstein erinnert an seinen Mut
Dass seine Tat nicht umsonst war, war Helle Hirsch wichtig. Auch wenn er sie nicht ausführen konnte, erinnert seit Mai 2007 ein Stolperstein in der Seestraße 89 an den Mut des jungen Freigeists.

Info

Nachlass
Katie Sugarman, die Schwester Helmut Hirschs, übergab den Nachlass ihres Bruders der Brandeis University in Massachusetts. Eine Online-Ausstellung erinnert dort an den Studenten und verhinderten Attentäter aus Stuttgart.

Grab
Die Grabstätte von Helmut Hirsch befindet sich in einem guten Erhaltungszustand in der Abt. 16 D, Nr. 11364, auf dem Waldfriedhof Stuttgart. Sie ist seit 2002 Eigentum der Landeshauptstadt und wird weiter erhalten.

Buch
Zum 50. Todestag widmete „Puls“, die Dokumentationsschrift der Jugendbewegung, ihr Heft Nr. 15 Helmut Hirsch. Es heißt „das helle-hirsch-heft“ und versammelt viele seiner Zeichnungen, Gedichte und Briefe.

Brief
Der letzte Brief, den Helmut Hirsch in der Nacht vor seiner Hinrichtung an die Eltern schreibt, zeugt von großer Gefasstheit und Reife. „Denkt nicht an die unbenutzten Möglichkeiten, sondern nehmt mein Leben als ein Ganzes! Ein großes Suchen, ein dummer Irrweg, aber auf diesem das Finden der letzten Ruhe“, schreibt er und versucht die Eltern mit gemeinsamen Erinnerungen zu trösten: „Bedenkt doch, wie schön mein Leben war! Nicht auf die Länge des Lebens kommt es an, sondern auf die Intensität! Und intensiv gelebt war bei mir jeder Augenblick.“ Als Hirschs Schwester 1963 diese letzten Zeilen an Inge Scholl schickt, die nie Abschiedsbriefe ihrer hingerichteten „Weiße Rose“-Geschwister erhalten hat, bedankt diese sich bewegt. „Nun war es, als würden sie mir durch den Brief Ihres Bruders aus ihrer Ewigkeit herübergereicht… Mich hat dieser Brief so glücklich, so stolz, so sicher gemacht, ich kann es nicht sagen wie.“