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Stolperstein in Stuttgart-Nord: Die Rettung anderer mit dem eigenen Leben bezahlt

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung 
Heidemarie A. Hechtel – 14.07.2024 – 18:00 Uhr 


Otto Hirsch (1885- 1941). Foto: Archiv

Als brillanter Jurist und hoher Staatsbeamter genoss Otto Hirsch, der sich als Schwabe und deutscher Patriot verstand, hohes Ansehen, bis er 1933 von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben wurde.

Otto Hirsch hat alles kommen sehen. „Es ist eine ernste Stunde“, sagte er als Präsident des Oberrates der Israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg am 19. Februar 1933 in der Israelitischen Landesversammlung. Keine drei Wochen, nachdem Adolf Hitler am 30. Januar zum Reichskanzler ernannt worden ist, macht er keinen Hehl aus Betroffenheit und Sorge: „Ich denke vor allem daran, dass in der Reichsregierung eine Partei maßgebend geworden ist, die fanatischen Judenhass gepredigt hat.“ Er wusste um Bedrohung und Gefahr und wurde doch selbst Opfer dieses „fanatischen Judenhasses“.

Die Stolpersteine für Otto Hirsch und seine Frau Martha Hirsch vor dem Haus Gähkopf 33, dem letzten Stuttgarter Wohnort des Ehepaars, sind schwer zu entziffern. Die Metallplatte ist nachgedunkelt und müsste mal wieder poliert werden. Ein junger Mann kommt vorbei, bleibt stehen, beugt sich hinunter und liest: „Otto Hirsch, ermordet am 19. Juni 1941 in Mauthausen.“ Und daneben: „Martha Hirsch, deportiert 1942 nach Riga, ermordet 1942“. „Entsetzlich“, sagt er leise. Er ist Amerikaner, „aus Minneapolis in Minnesota und seit 2016 in Deutschland“. Über die Menschen, an die hier erinnert wird, weiß er nichts. Aber er wohnt in dieser Straße, kennt die Stolpersteine, findet diese Art des Gedenkens gut und richtig und weiß sogar, dass allein in Stuttgart mehr als tausend Stolpersteine an Opfer des NS-Terrors erinnern.


Sie müssten wieder mal poliert werden: die Stolpersteine für Martha und Otto Hirsch vor dem Gebäude Gähkopf 33, Foto: Jan Sellner

Otto Hirsch. Der Name ist den Stuttgartern seit Jahrzehnten vertraut. Früher wohl vor allem als Namensgeber für eine wichtige Verkehrsverbindung. Denn schon 1958 wurden zur Eröffnung des Hafens die drei Brücken, die über den Neckar und den Neckarkanal Hedelfingen und Obertürkheim verbinden, nach Otto Hirsch benannt. Um damit den Mann zu würdigen, der als Mitbegründer und Vorstandsmitglied der Neckar AG maßgeblichen Anteil am Bau des Neckarkanals Mannheim-Plochingen hatte. Aber wie viele Menschen mögen jahrelang über diese Brücken gefahren sein, ohne einen Gedanken an den Namenspatron oder gar dessen Schicksal zu verschwenden?

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Otto Hirsch steht für beispielhafte Menschlichkeit, und sein Schicksal für beispiellose Unmenschlichkeit. In der Überzeugung, dass beides nie vergessen werden darf, wurde 1985 zum 100. Geburtstag von Otto Hirsch ein Gedenkstein mit Bronzetafel und Reliefporträt an der gleichnamigen Brücke aufgestellt. Allerdings an einem Ort, der auch nur im Vorüberfahren wahrgenommen werden konnte. Mittlerweile steht er vor der Friedhofsmauer in Hedelfingen.

40 Persönlichkeiten erhielten bisher die Otto-Hirsch-Auszeichnung
Verankert im Bewusstsein der Stadtgesellschaft ist diese Persönlichkeit jedoch vor allem, nachdem die Stadt unter Oberbürgermeister Manfred Rommel und die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ebenfalls zum 100. Geburtstag von Otto Hirsch eine Auszeichnung in seinem Namen stifteten: Seit 1985 wird die Otto-Hirsch-Medaille – 2013 in die Otto-Hirsch-Auszeichnung umgewandelt – alljährlich für Verdienste um die christlich-jüdische Verständigung verliehen. Am 9. Januar 1985 erhielt die erste Medaille der Rechtsanwalt Otto Küster, gewürdigt und ausgezeichnet wurden bisher 40 Persönlichkeiten, Frauen wie Männer. 2011 war es Gunter Demnig, der Künstler, der die Stolpersteine zur Erinnerung an Opfer aus der Zeit des Nationalsozialismus kreiert hat und 2009 auch die Stolpersteine für Otto Hirsch und seine Frau Martha verlegte.

Ein Foto kommt in den Sinn, aufgenommen zum 70. Geburtstag des Seniors Louis Hirsch am 19. August 1928, vielleicht in dem Doppelhaus, das sich die Brüder Otto und Theodor Hirsch am Killesberg bauen ließen und 1928 bezogen haben: Vier Mädchen in weißen Kleidern, ein Junge im Matrosenanzug, umgeben von Großeltern und Eltern. Aus der Szenerie einer glücklichen Vergangenheit reißt der Blick in die Gegenwart vor dieser Adresse: Die Inschriften auf den Stolpersteinen für das Ehepaar Hirsch machen immer noch fassungslos. Beide hätten rechtzeitig emigrieren können. Und harrten stattdessen in Deutschland aus, um anderen zur Flucht zu verhelfen. Bis es keine Rettung mehr gab.

Otto Hirsch wuchs in einem weltoffenen Elternhaus auf
Das Leben von Otto Hirsch ist detailreich dokumentiert. Geboren wurde er am 9. Januar 1885 in Stuttgart als älterer von zwei Söhnen des Weingroßhändlers Louis Hirsch und seiner Ehefrau Helene, geborene Reis. Zu dieser Zeit galt die jüdische Gemeinde in Stuttgart mit 2500 Mitgliedern als größte im Land Württemberg. Die Familie gehörte zum liberalen Stuttgarter Judentum, der Vater war Mitglied des Oberrats der israelitischen Religionsgemeinschaft, zuletzt dessen stellvertretender Präsident.

Geprägt wurde Otto Hirsch vom bildungsbürgerlichen und weltoffenen Klima in seinem Elternhaus. Betont wird in allen Biografien seine dreifache Identität: Er ist Deutscher schwäbischer Herkunft und jüdischer Religionszugehörigkeit, die religiöse Bindung sei für ihn zeitlebens ebenso bedeutsam gewesen wie die emotionale Verbundenheit mit der schwäbischen Heimat. Hirsch verleugnete sein Jüdischsein nicht und verstand sich gleichzeitig als deutscher Patriot.

Die Reifeprüfung legt er als Bester ab
Als die NSDAP schon 1933 zum Boykott jüdischer Geschäfte aufrief, reagierte der Israelitische Oberrat in Stuttgart mit Bestürzung: „Uns deutschen Juden, die sich mit allen Fasern ihres Herzens der deutschen Heimat verbunden fühlen, soll wirtschaftlicher Untergang bereitet werden. Der Vorwurf, unser Volk geschädigt zu haben, berührt aufs tiefste unsere Ehre.“ So hielt es der frühere Leiter des Stadtarchivs, Roland Müller, in seiner Arbeit über „Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus“ fest.

Von allen Zeitgenossen wird Otto Hirsch gerühmt: Als Mann mit herausragenden Fähigkeiten, absolut integerem Charakter und ausgeprägtem Pflichtgefühl. Dabei liebenswürdig, hilfsbereit, lebensfroh und gesellig. Dennoch musste er immer wieder Ausgrenzung und Benachteiligung erfahren. Nachdem er 1902 mit 17 Jahren als Primus die Reifeprüfung am Eberhard-Ludwigs-Gymnasium bestanden hatte, wäre er gern Gymnasiallehrer geworden. Man riet ihm ab: Der höhere Schuldienst wäre ihm ohne die Taufe und den Übertritt zum Christentum verwehrt geblieben, heißt es im „Lebensbild von Otto Hirsch“, das Paul Sauer, Müllers Vorgänger im Stadtarchiv, 1985 unter dem Titel „Für Recht und Menschenwürde“ eindrücklich gezeichnet hat. Stattdessen studierte Hirsch Rechtswissenschaften in Heidelberg, Leipzig, Berlin und Tübingen, verbrachte Studienaufenthalte in Oxford und Grenoble und leistete dazwischen 1903 seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger bei den Olgagrenadieren.

Auch hier wieder die böse Erfahrung: „Für den Rang eines Reserveoffiziers fehlte ihm der Taufschein“, liest man bei Ulrike Schaper vom Deutschen Historischen Museum. Die juristischen Staatsprüfungen bestand Hirsch mit „Traumnoten“ (Sauer), 1912 folgte seine Dissertation über die württembergische Bauordnung. Aber Widerstände hatte es wiederum selbst gegen seine Berufung zum Rechtsassessor 1912 im Dienst der Stadt Stuttgart im Gemeinderat gegeben. Die Ernennung zum Rechtsrat ließ ihm zwei Jahre später Oberbürgermeister Karl Lautenschlager am Morgen seiner Hochzeit mit der 23-jährigen Stuttgarterin Martha, geborene Loeb, am 14. Mai 1914, zusenden. Das Ehepaar bekommt drei Kinder: Hans Georg, Grete und Ursula.

Als Rechtsrat war Hirsch mit den Plänen für den Bau der Siedlung Luginsland, wasserrechtlichen und elektrizitätswirtschaftlichen Angelegenheiten befasst und erwarb sich durch seine hohe Kompetenz so großes Ansehen, dass er 1914 bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges als unverzichtbar vom Frontdienst freigestellt wird. 1919 wechselte Hirsch als Berichterstatter für Schifffahrt, Wasserwege und Elektrizitätsversorgung ins Innenministerium. Als Experte nahm er die Interessen Württembergs auf diesem Gebiet bei der Nationalversammlung in Weimar und bei der Pariser Friedenskonferenz wahr.

Die Nazis bezeichneten ihn als „volkswirtschaftlichen Schädling“
Seinen weiteren Berufsweg bestimmte der Bau des Neckarkanals von Mannheim nach Plochingen. Das Projekt konnte er nicht vollenden: Noch 1933 wurde er als Vorstand der Neckar AG abgesetzt. „Als volkswirtschaftlicher und nationaler Schädling ist der Großjude Hirsch sofort zu entfernen“, schrieb ein gewisser Hermann Jäck, wohnhaft Auf dem Haigst 32, am 4. April 1933 an Innenminister Mergenthaler, wie ein Dokument im Buch von Paul Sauer verbürgt.

Das Gerüst der Paragrafen war dem Mann von hohen Geistesgaben für seine Ansprüche und ethischen Überzeugungen nicht genug. Schon 1926 hatte er zusammen mit dem Fabrikanten Leopold Marx (1889-1983) und dem Musiker Karl Adler (1890-1973) das Stuttgarter jüdische Lehrhaus gegründet, das auch ein Ort der Begegnung zwischen Juden und Christen wurde. Nun wird die Reichsvertretung der Deutschen Juden in Berlin zu seiner Lebensaufgabe. „Mit Mut und Würde vertrat er die jüdischen Belange gegenüber den grausamen und erbarmungslosen nationalsozialistischen Mördern“, schreibt sein Sohn Hans Georg Hirsch im Vorwort von Sauers Biografie.

Rabbiner Leo Baeck lobt ihn: „Ein Mann, auf den man bauen konnte“
Als Leitender Vorsitzender koordiniert er die jüdische Selbsthilfe, unterstützt die Erziehungs- und Bildungsarbeit im jüdischen Landschulheim Herrlingen, protestiert gegen Unrecht und kämpft für das Recht. Zehntausenden verhilft er zur lebensrettenden Emigration. Rabbiner Leo Baeck, der in der Reichsvertretung eng mit ihm zusammenarbeitet, schreibt rückblickend: „Er war ein Mann, auf den man bauen konnte. Kein Falsch oder Fehl war in ihm. Man musste ihn lieben.“

1935 wird er zum ersten Mal verhaftet. Da sind seine Frau und die Kinder noch im Haus Gähkopf 33. Er kommt bald wieder frei, Ende des Jahres ziehen Martha und die jüngste Tochter Ursula nach Berlin. Tochter Grete folgt 1936, der Sohn Hans-Georg darf als Jude nicht studieren und arbeitet als Landwirtschaftspraktikant in Bayern, Schlesien und Württemberg. Er wandert 1938 nach Amerika aus, den beiden Töchtern gelingt 1939 noch die Flucht nach England.

Pflichterfüllung stand bei ihm an oberster Stelle
Otto Hirsch lehnte alle Möglichkeiten zur Auswanderung ab, von Reisen nach Paris, London, Palästina, der Schweiz und Amerika kehrte er pflichtbewusst zurück, berufliche Angebote aus dem Ausland konnten ihn nicht umstimmen, weil er seine Aufgabe, die Rettung der Schicksalsgenossen, noch nicht erfüllt sah. Er wisse genau, was ihm drohe, aber er sei entschlossen, den Weg der Pflicht zu gehen, hatte er 1936 in Haifa den dringenden Rat, nicht nach Deutschland zurückzukehren, zurückgewiesen. Getreu seiner Überzeugung, die er schon als junger Mann in einem Brief an einen Freund vertrat: „Die Erfüllung der Pflicht ist das moralisch Höchste und das einzig Logische.“ Von den 540 000 Glaubensjuden, die 1033 in Deutschland lebten, sollen nach Aussage von Historikern 317 000 ihre Rettung seinem Einsatz verdanken.

1938 wird er nach seinem Protest gegen die Vernichtung der Synagogen zum zweiten Mal verhaftet und für zwei Wochen im KZ Sachsenhausen interniert. „Wir werden hier sterben“, soll Martha Hirsch 1939 klarsichtig geäußert haben. Aber nicht mal das war ihr vergönnt. Am 16. Februar 1941 wird Otto Hirsch zum dritten Mal verhaftet und am 23. Mai ins KZ Mauthausen verlegt, wo er am 19. Juni stirbt. Angeblich an einer Dickdarmentzündung. „Ich habe Ihnen mitzuteilen“, eröffnete am 24. Juni 1941 ein Schutzpolizist Martha Hirsch an der Wohnungstür, „dass Ihr Mann gestorben ist. Die Urne kann Ihnen nicht ausgefolgt werden. Heil Hitler.“

Seine Frau Martha wird in Riga ermordet
„Mehr als vier Jahrzehnte später entdeckte ich im Totenbuch von Mauthausen, das im US-Nationalarchiv in Washington aufbewahrt wird, unter dem Datum 19. Juni 1941 den Eintrag, dass Otto Israel Hirsch an Colitis ulcerosa, also an Darmgeschwüren gestorben sei“, berichtet Hans Georg Hirsch, der in den USA lebte und 2015 mit 99 Jahren in Washington verstorben ist. Für Martha Hirsch schien Rettung nah: Sie erhielt ein Visum für die USA. Doch die Gestapo nahm ihr kurz vor der Abreise die Auswanderungspapiere auf Befehl Eichmanns ab. Sie wird am 26. Oktober 1942 von Berlin nach Osten deportiert und in Riga ermordet. Gunter Demnig hat 2016 auch am letzten Berliner Wohnort von Otto und Martha Hirsch, in der Königsallee 35 im Grunewald, einen Stolperstein verlegt.

Der deutsche Jude und Patriot Otto Hirsch hatte am 19. Februar 1933 noch Hoffnung: „Ich vertraue auf die ruhigen und gefestigten Verhältnisse in unserem engeren Heimatland.“ Die Hoffnung erfüllte sich nicht, liest sich aber heute angesichts des drohenden Rechtsrucks wie ein mahnendes Vermächtnis, für die Erhaltung „gefestigter Verhältnisse“ zu kämpfen.