Artikel von Jan Georg Plavec
Stuttgarter Nachrichten – 01.09.2024 – 17:00 Uhr
Deutscher durfte er nicht mehr sein, Arzt konnte er nicht mehr sein: Cäsar Hirsch (1885 – 1940). Foto: Archiv/privat
Cäsar Hirsch ist einer der angesehensten Mediziner Stuttgarts. 1933 flieht er vor dem „Judenboykott“ ins Ausland, sieben Jahre später wählt er den Freitod. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine – die Menschen hinter den Namen“.
Er schrieb einen Abschiedsbrief an mich und nahm Gift.“ So schildert die Witwe von Cäsar Hirsch 1956, wie sich 16 Jahre zuvor ihr Mann in Seattle das Leben genommen hat. Hirsch war Hals-Nasen-Ohren-Arzt und Anästhesist. Er wusste, was zu tun war, um aus dieser Welt zu treten.
Das Gift sickert schon viel früher in sein Leben ein, der Freitod ist nur der „Schlussakt einer Tragödie“, schreibt seine Frau Felicia. Begonnen hat diese Tragödie im Januar 1926 in der Birkenwaldstraße 60 in Stuttgart. Cäsar Hirsch ersteigert die Villa des überschuldeten, windigen Cafébetreibers Emil Dobler. Ihn kennt Hirsch schon als Patient, nun lernt er dessen ganz unangenehme Seite kennen. Doblers Auszug muss der Gerichtsvollzieher erzwingen, wie Cäsar Hirschs Biograf Leo Martin Reich recherchiert hat. Mehrfach verstrickt der gekränkte Dobler ihn in juristische Auseinandersetzungen. Mal ging es um die (erfundene) sexuelle Belästigung einer mit Dobler befreundeten Patientin, mal um vermeintliche Privatgegenstände aus der Villa. Selbst einen diffamierenden Artikel im „NS-Kurier“ lanciert der Nazi gegen den mittlerweile über Stuttgart hinaus angesehenen Arzt.
Cäsar Hirsch ist 40 Jahre alt, als er die Villa erwirbt. 1885 geboren in eine schwäbisch-jüdische Familie in Bad Cannstatt, verlässt er zum Medizinstudium die Stadt und eröffnet nach jahrelangem, freiwilligem Militärdienst in Weltkriegslazaretten eine eigene Praxis in der Tübinger Straße, wo er bis 1926 mit seiner Frau Felicia und den Kindern Peter Jakob und Susa wohnt. 1927 kommt die Tochter Käte zur Welt.
Glückliches Leben in der Birkenwaldstraße
In den 1920er Jahren nimmt Hirschs Karriere Fahrt auf. 1923 baut er die HNO-Abteilung am Marienhospital auf. Sein Biograf schreibt, Hirsch „hatte in Stuttgart einen so guten Ruf, dass man an ihm einfach nicht vorbeikam“. Seine Abteilung wächst rasch von 30 auf 80 Betten. Es lebt sich sehr gut in der mittlerweile renovierten Villa in der Birkenwaldstraße, mit zwei Angestellten, dazu Wasch-, Putzfrau und Gärtner. Die Familie kann sich einen Mercedes und zwei große Reisen im Jahr leisten.
Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen
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Während Cäsar Hirsch zu einem der bekanntesten und bestverdienenden Ärzte Stuttgarts aufsteigt, fängt das Gift der Nationalsozialisten an zu wirken. Damals wie heute sind Hass und Gewalt die sichtbaren Symptome. Die Folgen zeigen sich oft erst nach und nach. So auch bei Cäsar Hirsch.
Der Druck wird unerträglich
Noch bevor Hitler und seine Leute an die Macht kommen, wird er auf offener Straße in Stuttgart von einem Mann „in Naziuniform“ angegriffen, so schildert es seine Witwe. In den Wochen danach tauchen in seiner Praxis Juden auf, „die von Hitlers Leuten blutig misshandelt waren“. Anonyme Drohbriefe gehen ein, Nazis tauchen bei der Oberin des Marienhospitals auf und fordern seine Absetzung. Der prominente Mediziner steht offenbar auf einer schwarzen Liste der Nazis.
Hirsch ist „sehr ehrgeizig, aber auch sehr sensibel“, beschreibt ihn Jahrzehnte später sein Anwalt. In der angespannten Stimmung nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler Ende Januar 1933 und der deutlichen Mehrheit für die NSDAP bei der Wahl Anfang März ruft Propagandaminister Joseph Goebbels zu einem am 1. April beginnenden „Judenboykott“ auf, angeblich um schlechte Berichte in der „Auslandspresse“ zu unterbinden.
Hirsch fürchtet um Leib und Leben. Er bespricht sich mit Freunden und seiner Frau und beschließt Ende März 1933, dass die Familie in die Schweiz flieht. Vorbereitet ist nichts. Die Schwiegermutter und die drei Kinder fahren mit dem Zug voraus, Cäsar und Felicia Hirsch reisen abends im voll beladenen Mercedes hinterher.
„… in ohnmächtiger Wut“
Was nicht ins Auto passt, ist für die Familie verloren. Zwei Angestellte werden wenig später beim Versuch erwischt, auf Bitten Hirschs Geld in die Schweiz zu schmuggeln. Die Villa, wertvolle Teppiche, ein Flügel und vieles mehr werden später zwangsversteigert, um eine Reichsfluchtsteuer und andere Zwangsabgaben zu begleichen.
Ein großer Artikel im „Schwäbischen Merkur“ gibt im April 1933 derweil Einblick in die Arbeit der offenbar bereits politisierten Justiz – und in Hirschs Verzweiflung. Der Bericht zitiert aus einem Brief Hirschs an einen Chefarztkollegen im Marienhospital: „Ich sitze in ohnmächtiger Wut hier.“
Dem Starmediziner wird in diesen Wochen klar, dass er sein altes Leben nicht zurückbekommt. Vielleicht ahnt er, dass es für ihn keinen Ort gibt, an dem er sein kann, wer er ist und tun darf, was er kann.
Weiter nach New York
In Zürich erhält er keine Arbeitserlaubnis, die Familie zieht in die Nähe von Paris. Die Tätigkeit als Assistent eines jungen französischen Mediziners ist demütigend und schlecht bezahlt. Die Familie sitzt auf Kisten statt auf Stühlen, schläft auf Matratzen ohne Bettgestell. Weil das Geld nicht reicht, geben die Hirschs den Sohn Peter zwischenzeitlich zu einer benachbarten Schleusenwärterfamilie, die sogar anbietet, ihn zu adoptieren.
So kann es nicht weitergehen, also versucht Cäsar Hirsch in den USA sein Glück. Verwandte schicken ihm ein Visum und ein Ticket erster Klasse, am 15. November legt der Luxusdampfer „Île de France“ Richtung New York ab. Der Rest der Familie kommt ein halbes Jahr später nach. Wie es seiner Frau damit geht, verrät sie in ihrem Brief von 1956 nicht, nur: „Die Trennung bedrückte meinen Mann sehr, und ich machte große Anstrengungen, ihm die Trennung zu erleichtern.“
Als die Familie in New York wieder zusammen ist, bezieht sie eine Wohnung unweit des Central Parks. Hirsch hält Vorträge, praktiziert als selbstständiger Arzt, lehrt und arbeitet an zwei Kliniken. Doch weil immer mehr deutsche Ärzte einwandern, regen sich auch in New York ausländerfeindliche Kräfte, die Hirsch die Arbeit erschweren.
Selbst den Doktortitel nimmt man ihm
Zuhause in Deutschland zerstören die Nazis derweil seinen Ruf. Im Juli 1934 heißt es im „Stuttgarter Neuen Tagblatt“, Cäsar Hirsch beteilige sich von New York aus „in hetzerischer und schädigender Weise gegen das nationalsozialistische Deutschland“. Man beschlagnahme deshalb sein gesamtes Vermögen. 1938 wird ihm die Staatsbürgerschaft aberkannt, ein Jahr später entzieht die Universität Freiburg ihm den Doktortitel.
Gegen den Artikel im „Tagblatt“ wendet sich Hirsch von New York aus, schreibt unter anderem dem Reichsaußenminister. Er kommt nicht darüber hinweg, dass er nun jenes Land zum Feind hat, das er „liebt wie ein gutes Kind seine Eltern, auch wenn es mit ihnen manchmal nicht auf einer Wellenlänge ist“, wie er dem New Yorker Abgeordneten im Repräsentantenhaus Sol Bloom schreibt.
„Höchste, wochenlang anhaltende Erregung“
Seine Frau erinnert sich, der Zeitungsbericht habe Hirsch „in höchste, wochenlang anhaltende Erregung“ versetzt. Wenn danach die Rede auf Deutschland gekommen sei, „verlor er alle Beherrschung, und ich befürchtete oft das Ärgste. Nach diesen Anstrengungen setzte jedes Mal eine tiefe Abspannung ein, in der er sich völlig abschloss“. Es geht ihm wie vielen anderen jüdischen Deutschen, die plötzlich keine Deutschen mehr sein sollten. Ihm, dem Weltkriegsveteran, der schon als Student in der Verbindung jedem zeigen wollte, dass Juden besonders gute Deutsche sein können, jedenfalls nach damals gängigem Verständnis.
Das finale, kurze Kapitel von Cäsar Hirschs Leben spielt in Seattle. In der Hoffnung auf eine eigene Praxis zieht die Familie in den Nordwesten der USA. Obwohl er psychisch angeschlagen ist und unter Schlaflosigkeit leidet, wiederholt er sein medizinisches Examen. Als der Kollege, der ihm die Beteiligung an der Praxis versprochen hat, sein Wort bricht und sich auch sonst niemand von einem Arzt aus dem Krieg führenden Deutschland behandeln lassen will, „war es mit seiner Kraft zu Ende“, schreibt Felicia Hirsch. Am 14. Mai 1940 nimmt ihr Mann sich das Leben.
Was bleibt von diesem Leben? Hirschs Enkel Norman, selbst Mediziner, bezeichnet ihn in einem vergangenes Jahr erschienenen Text als „tragische, gescheiterte Figur. Niemand in der Familie schien ihn sehr zu vermissen.“ Felicia Hirsch heiratet 1943 noch einmal und wird von Kalifornien aus nach dem Krieg wirtschaftliche Wiedergutmachung erstreiten. Hunderte Seiten Akten lagern im Landesarchiv. 1999 veröffentlicht der Tübinger Historiker Hans-Joachim Lang die Geschichte von Hirschs Fachbibliothek; die Uni Tübingen gibt sie an dessen Sohn Peter zurück, der sich zwischenzeitlich in Hearst umbenannt hat und die Bücher der Universität von Kalifornien schenkt. Seit 2008 erinnert ein Stolperstein in der Birkenwaldstraße 60 an Cäsar Hirsch.
Mehr zu den Stolpersteinen
Serie
Seit Ende Januar veröffentlicht unsere Redaktion in Zusammenarbeit mit den Stuttgarter Stolperstein-Initiativen jede Woche eine Biografie eines Stuttgarter NS-Opfers. Alle Beiträge aus der Serie mit dem Namen „Stolpersteine – die Menschen hinter den Namen“ haben wir auf dieser Seite gesammelt.
Initiativen
Die Gruppe „Stolpersteine für Stuttgart“ besteht aus zahlreichen Ehrenamtlichen, die Biografien von Menschen recherchieren, welche während des Naziregimes entrechtet, verfolgt und getötet wurden. Mehr dazu auf der Stolpersteine-Website.