Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Jan Sellner – 19.09.2024 – 17:05 Uhr
Der neu verlegte Stolperstein für Recha Schmal vor dem ehemaligen jüdischen Schwesternheim in der Dillmannstraße 19. Foto: Lichtgut/Julian Rettig
Die jüdische Krankenschwester Recha Schmal überlebte den Nazi-Terror und war dennoch ein Opfer der Nazis. Seit dieser Woche erinnert ein Stolperstein in der Dillmannstraße an die aufopferungsvolle Frau, die in den USA eine neue Heimat fand.
Als er von Recha Schmal spricht, schließt Steve Schmal – ihr Neffe – einmal lange die Augen, so als sende er ihr gute Wünsche hinterher. Aus seiner Stimme spricht tiefe Verbundenheit. Den Zuhörern wird klar, die Tante war eine prägende Gestalt in dem nun auch schon fortgeschrittenen Leben des Mannes am Mikrofon. Wie eine zweite Mutter sei sie für ihn gewesen, bestätigt Steve Schmal.
Die Szene spielt in der Dillmannstraße 19 vor dem 1914 von den jungen jüdischen Regierungsbaumeistern Oscar Bloch und Ernst Guggenheimer erbauten ehemaligen jüdischen Schwesternheim. Auf dem Gehsteig glänzt ein frisch verlegter Stolperstein, der Recha Schmal gewidmet ist. Er trägt die Aufschrift: „Recha Schmal. Jg 1900, deportiert 1942, Theresienstadt, Flucht 1945, Schweiz, USA.“
Recha Schmal (re.) als 16-Jährige mit Gretel Gideon, einer Freundin. Foto: Museum zur Geschichte von Christen und Juden Laupheim
Im Halbkreis um den Stein und um Steven Schmal sitzen und stehen Mitglieder der Stuttgarter Stolperstein-Initiativen und andere Interessierte, die der kleinen, würdigen Zeremonie beiwohnen wollen, mit der Recha Schmal gedacht wird. Einer Frau, die dem Naziterror nicht zum Opfer fiel, dennoch aber ein Naziopfer war. Jupp Klegraf von der Geschichtswerkstatt Stuttgart-Nord hat ihr Schicksal recherchiert. Zuvor hatte die Stolperstein-Initiative bereits ihrer Mutter Betty und ihrem Bruder Simon sowie dessen Frau Grete Gedenksteine gewidmet.
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Vergeblich bemühte sie sich um die Ausreise mit ihrer Mutter
Steve Schmal, der mit seiner Frau eigens aus den USA angereist ist, nennt die Lebensdaten seiner Tante: Am 29. September 1900 wurde sie in Laupheim als Tochter von Betty und Julius Schmal geboren, einem Metzger und Kaufmann. Sie hatte drei Brüder: den älteren Simon und den jüngeren Otto, ein dritter Bruder, Heinrich, starb kurz nach der Geburt. Simon und Otto gelang später die Ausreise aus Nazideutschland: Simon emigrierte in die USA, Otto nach Südafrika. Recha blieb zurück – zwangsweise.
Nach der Realschule hatte sie sich 1917 für eine Ausbildung als Säuglings- und Krankenpflegerin in Stuttgart entschieden. 1924 legte sie an der Uniklinik in Freiburg ihr Staatsexamen ab, ging anschließend als Assistentin nach Berlin und kam dann wieder nach Stuttgart, wo sie mit ihren Eltern in Bad Cannstatt lebte und bis 1936 in der Arztpraxis ihres Bruders Simon mitarbeitete. Anschließend ging sie wieder nach Berlin und dann nach Frankfurt, wo sie als Krankenschwester im Jewish Hospital arbeitete.
Steve Schmal, Neffe von Recha Schmal, bei der Stolpersteinverlegung in der Dillmannstraße. Foto: Lichtgut/Julian Rettig
Die Lage für Juden verschärfte sich zusehends. Nachdem ihr Vater am 11. November 1938 verstorben war, zwei Tage nach der Reichspogromnacht, bemühte Recha Schmal sich vergeblich um eine gemeinsame Ausreise mit ihrer Mutter. Für die Tochter war klar: Sie würde in Reichweite ihrer Mutter Betty bleiben. Von Frankfurt aus besuchte sie sie regelmäßig in Stuttgart. Ende 1940 kehrte sie ganz nach Stuttgart zurück und zog im Jüdische Schwesternheim in der Dillmannstraße 19 ein – dort, wo jetzt ein Stolperstein für sie liegt. In der Folge war sie als Krankenschwester in der Jüdischen Kultusgemeinde tätig. Nach einem kurzen Aufenthalt im Altenheim in der Heidehofstraße 9, wo ihre Mutter zwangsweise untergebracht war, wurde sie im Februar 1942 für das Zwangsaltenheim Schloss Eschenau abkommandiert – die letzte Station vor Theresienstadt. Von dort führte der Weg für sie und ihre Mutter via Stuttgart am 22. August 1942 ins KZ, wo sie unter schwierigsten Bedingungen Krankenpflege leistete. Den Tod ihrer Mutter durch Unterernährung ein Jahr später konnte sie nicht verhindern.
Ein „Wunder“ führte Recha Schmal in die Freiheit
Im Februar 1945 dann, so schildert es Steve Schmal, ereignete sich „ein Wunder“. Zusammen mit mehr als 1200 anderen Lagerinsassen konnte Recha Schmal einen Zug besteigen, der sie von der „Hölle Theresienstadt“ in die Freiheit brachte – in die Schweiz. Jupp Klegraf glaubt den Grund für das Wunder zu kennen. Angesichts der ausweglosen Lage und in der Hoffnung auf spätere mildernde Umstände habe SS-Führer Heinrich Himmler Kontakt zum Schweizer Bundespräsident J.-M. Musy aufgenommen, „um ihm einen Tausch ,KZ-Insassen gegen Geld und/oder Kriegsmaterial‘ vorzuschlagen“. Man habe sich auf zwei Transporte mit je 1500 Personen aus Theresienstadt verständigt. Doch nur einer sei zustande gekommen – mit Recha Schmal an Bord.
Das 1904 erbaute Jüdische Schwesternheim in der Dillmannstraße 19. Foto: Jan Sellner
Nach einer Zwischenstation im Flüchtlingslager Les Avant sur Montreux reiste sie im April 1945 in die USA aus und zog zu ihrem Bruder Simon und dessen Familie nach Ithaca im Bundesstaat New York und wurde für den kleinen Steve eine wichtige Bezugsperson. 16 Jahre lang arbeitete sie im örtlichen Tompkins County Hospital, ehe sie in den Ruhestand ging, um dann weiter ihre Nächsten zu pflegen. Am 8. Juni 1977 verstarb Recha Schmal. Ihr Bruder Simon überlebte sie um zwei Jahre; ihr jüngerer Bruder war 1973 verstorben.
Für ihren Neffen Steve Schmal bilden diese biografischen Daten nur einen Rahmen. Mit innigen Worten schildert er seine alleinstehende, aber nicht alleingelassene „liebe Tante“ als einen „gefühlsbetonten Menschen“, der für andere lebte, klassische Musik liebte und auf Reisen ging – etwa nach Südafrika, wo ihr Bruder Otto lebte.
Ein Reiseziel, so schildert es Steve Schmal leise, kam für sie jedoch nie mehr infrage: Deutschland, obwohl Recha Schmal die deutsche Sprache zeitlebens gepflegt habe.