Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
05.01.2025 – 18:00 Uhr – Heidemarie H. Hechtel
Emma Schwab – das Foto aus der Patientenakte des Bürgerhospitals von 1931. Foto: Stadtarchiv Stuttgart
Ein Stolperstein in Weilimdorf erinnert an die Gastwirtstochter, die 1940 als eine von 10 654 Opfern in Grafeneck wegen ihrer psychosomatischen Erkrankung vergast wurde
Die Zahl ist monströs, das Verbrechen Ausdruck einer menschenverachtenden Hybris: Allein im Verlauf des Jahres 1940 wurden in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb 10.654 kranke und behinderte Menschen ermordet. Eine von ihnen war Emma Schwab, für die am 4. März 2022 ein Stolperstein in der Glemsgaustraße 27 in Weilimdorf verlegt wurde. Eingeschrieben in die Metallplakette ist neben dem Todesdatum, dem 10. 12. 1940, auch das Mordmotiv mit dem lapidaren Begriff: Aktion T4.
Dahinter verbirgt sich Adresse Tiergartenstraße 4 in Berlin. Als Tarnung für die vom NS-Terrorregime als „geheime Reichssache“ beschlossene „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, zynisch als Euthanasie, Gnadentod, bezeichnet. Ein Massenmord, dem mehr als 100.000 körperlich und geistig behinderte Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen.
Die Krankenakte von Emma Schwab enthält einen Bericht über ihr Leben
Bei ihren Nachforschungen nach Euthanasie-Opfern im Staatsarchiv Ludwigsburg ist Elke Martin, Autorin des Buches „Verlegt“ über die Krankenmorde 1940-1941 in der Region Stuttgart, auch auf Emma Schwab gestoßen. Eine Frau aus einfachen Verhältnissen, deren Spuren höchstens im privaten Foto-Album und in der Erinnerung der Familie gehütet worden wären. Wenn nicht eine tückische Krankheit von ihr Besitz ergriffen hätte, die sie in der Sprache der herrschenden Unmenschen zu einer „Ballastexistenz“ stempelte und ihr Todesurteil bedeutete.
Emma Schwab kommt am 1. Dezember 1894 in Weilimdorf auf die Welt. Als letztes von sieben Kindern von Carl Heinrich Schwab und seiner Ehefrau Christiane Katharine, geborene Raith. Der Vater, Metzgermeister und Kronenwirt in Weilimdorf, ist da schon 52 Jahre alt, die Mutter 42. Soweit die Daten aus dem Ortssippenbuch Weilimdorf. Wie ihr Leben bis zum 37. Lebensjahr weiter verlaufen ist, erzählt sie selbst am 25. September 1931 einem Arzt im Stuttgarter Bürgerhospital. Nachzulesen in einer Krankenakte zu „Emma Schwab, Dienstmädchen“ aus der Klinik für psychosomatische Medizin, die hier bis 2012 untergebracht war. Der Erkrankung von Emma Schwab verdankt man den authentischen Bericht über dieses Leben.
Der Gedenkstein für Emma Schwab in Weilimdorf Foto: Hans-Martin Goede
„Die Patientin leidet an Schizophrenie“, steht in dem „Ärztlichen Zeugnis“, mit dem der behandelnde Arzt Dr. Dannhauser Emma Schwab ans Bürgerhospital überwiesen hatte. „Sie bedarf wegen dieser geistigen Erkrankung und Gefahr für sich und andere der Aufnahme in die psychiatrische Abteilung.“ Nichts deutet auf dem einzigen Foto, das von ihr existiert, auf eine geistige Verwirrung hin. Emma Schwab, dunkelhaarig, dunkle Augen, blickt ernst, konzentriert und gesammelt in die Kamera. Sie sei, gab sie für die Anamnese zu Protokoll, als Kind immer gesund gewesen. Wie auch die Geschwister, von denen vier, ein Bruder und drei Schwestern, noch am Leben seien. Niemand in der Familie habe je an einer Geisteskrankheit gelitten, „Anfälle, Selbstmord, Trunksucht oder Linkshändigkeit“ seine nie vorgekommen.
„In meiner Jugend bin ich vergnügt gewesen“
Der Vater sei 1908 mit 65 Jahren an einem Schlaganfall gestorben, gab sie weiter zu Protokoll. Die Mutter sei 79 Jahre alt und gesund. Sie selbst sei mit sieben Jahren in die Schule gekommen: „Ich habe immer gut gelernt und bin immer bei den Ersten gewesen.“ Weil sie mit zwölf Jahren eine Kniegelenksentzündung bekommen habe, die erst nach vier Jahren ausgeheilt war, habe sie so viel vom Unterricht versäumt, dass sie die Schule mit zwölf Jahren verließ. „In meiner Jugend bin ich vergnügt gewesen und habe Freundinnen gehabt.“
Emmas Bruder Wilhelm Heinrich, zehn Jahre älter als sie, hatte die Nachfolge seines Vaters als Kronenwirt angetreten. Hier lebt sie bis zum 20. Lebensjahr bei Mutter und Bruder. Offenbar nicht wirklich wohlgelitten. „Der Bruder war sehr streng“, deutete sie dem Arzt gegenüber an. Sie leidet unter Lieblosigkeit und schlechter Behandlung. Mit 20 zieht sie deshalb zu einer Schwester, die mit ihrem Mann ebenfalls eine Gastwirtschaft betreibt. Die Hoffnung, es dort besser zu haben, trügt: „Mein Schwager hat mich geschlagen, weil ich zu den Kindern gehalten habe“, berichtete sie. Vielleicht wollte sie auch die Kinder vor Schlägen schützen. Sie selbst sei „wegen der Schläge zwei Wochen im Krankenhaus Leonberg gewesen“. Es müssen massive Verletzungen gewesen sein. Zehn Jahre hält sie hier aus, dann kehrte sie erneut zu Mutter und Bruder ins Gasthaus zurück. Wo sollte sie sonst hin? Als Arbeitskraft ist sie geduldet.
Die Krone in Weilimdorf vor ihrem Abriss in den 1960er Jahren. Hier lebt Emma Schwab bis zum ihrem 20. Lebensjahr. Foto: Hans-Martin Goede
„1925 wurde alles anders“, erklärte sie. Die ersten Anzeichen der psychosomatischen Erkrankung machten sich bemerkbar. Sie habe gemeint, sie habe ein Herzleiden und daher ihre Arbeit vernachlässigt. Zum Unmut des Bruders, der sie endgültig rauswerfen will: Sie solle wieder zurück zur Schwester gehen. Alles, bloß das nicht. Ein Herzleiden kann nicht festgestellt werden, aber die häusliche Situation ist unhaltbar: Emma geht 1926 nach Stuttgart, sucht sich ein Zimmer, lernt das Weißnähen, nimmt dann Stellungen in Weilimdorf, Stuttgart und Cannstatt an und wechselt die Arbeitsplätze ebenso oft wie das Logis. Getrieben von permanenter innerer Unruhe, Anzeichen der Krankheit: Sie schlafe schlecht, habe Angstzustände, spricht von Gedankenübertragungen und meint damit Halluzinationen und Stimmen in ihrem Kopf. Ein Arzt habe ihr geraten, sie solle heiraten, dann werde es besser. Sie befolgt einen anderen Rat: Ein Vermieter habe ihr einen Magnetopathen empfohlen: Der habe mit Tropfen und Salbe geholfen, „ich bin wieder ein anderer Mensch geworden.“
Der Mann, der sie behandelt, stellt sich als Scharlatan und „Lump“ heraus
Nicht für lange und schon gar nicht dauerhaft: Die Krankheit überfällt sie in Schüben, Emma Schwab gibt nicht auf, kämpft sich tapfer durch und glaubt in guten Phasen immer wieder ans Geheiltsein. Sie wechselt das Zimmer, als sie „der Hausherr mit dem Zimmer überfordert“, wie sie sagt und vermutlich seine Übergriffigkeit meint. Sie erkennt genau, warum der Magnetopath, natürlich ein Scharlatan, sie plötzlich heiraten will: „Er wollte nur mein Geld, die gesparten 1300 Mark auf der Sparkasse, ich habe gemerkt, dass er schlechte Absichten hatte.“
Ein „Lump“, der sie bestiehlt, betrügt, sogar mit dem Tod bedroht: Er brauche kein Gift und keine Waffe, um Leute umzubringen, habe er gesagt. Da sei sie immer wieder in einen Zustand gekommen, als müsse sie sterben: „Etwas drückt aufs Herz, bei diesem Mann ist es mir in den Kopf gezogen worden.“ Sie fühlt sich verfolgt, gehetzt, bedroht, nirgendwo sicher, glaubt, dass alle von ihrer Familie gegen sie aufgehetzt wurden, und verzweifelt: „Ich weiß nicht mehr, wohin und wem ich vertrauen kann.“ Die letzte Stellung bei einer Cannstatter Gärtnerei kündigt sie am 25. September 1931, an dem auch die Aufnahme im Bürgerhospital belegt ist.
Kurz nach ihrem 46. Geburtstag wird sie in Grafeneck ermordet
Ein Mensch in tiefster Not. „Die Patientin erzählt alles vollkommen geordnet und macht einen gequälten und verängstigten Eindruck“, kommentiert der Arzt diesen erschütternden Lebensbericht. Er verfügt die stationäre Aufnahme in die psychiatrische Abteilung und hält am 12. November fest, dass die Patientin ruhige Tage habe, aber dann wieder klage, sie würde von Stimmen geweckt und stünde unter Hypnose. Dennoch folgt sie, begleitet von einer Fürsorgerin, am 14. Oktober einer Ladung ans Cannstatter Amtsgericht: Als Zeugin gegen den „Lump“, der wegen Betrugs angeklagt ist.
Mit der Diagnose „Schizophrenie, Prognose zweifelhaft“, wird sie am 26. November 1931 in die Heilanstalt Christophsbad in Göppingen überführt: „Sie hat sich bei der Überführung ambivalent verhalten“, heißt es im ärztlichen Begleittext. „Zuerst gebeten, nicht von hier fortzugehen, ging dann aber doch gern und bereitwillig.“ Ist sie dort zur Ruhe gekommen? Hat sie wenigstens ein Stück Geborgenheit erlebt? Man weiß es nicht. Bis 1940 lebt sie dort und ein weiteres halbes Jahr in der Heilanstalt Weinsberg, aus der sie am 10. Dezember 1940 nach Grafeneck „verlegt“ und am gleichen Tag in der dort eingerichteten Gaskammer ermordet wird. Kurz nach ihrem 46. Geburtstag.
Ob die Angehörigen einen so genannten „Trostbrief“ mit fiktiver Todesursache oder eine Urne erhalten haben, ist nicht bekannt. Nachkommen der Familie waren nicht mehr aufzufinden, das Gasthaus Krone ist längst abgerissen. In Grafeneck, wo selbst Kinder auf der Straße erzählten, dass dies hier ein Ort des Todes sei (Roland Müller: „Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus“), endete das systematische Morden noch im Dezember. Offiziell ließ Adolf Hitler die Mordaktion am 24. August 1941 einstellen. Doch die Ermordung „missgestalteter Neugeborener“ ging weiter.