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Stolperstein in Stuttgart-West: Weil er zweifelte, landete er am Galgen

Artikel aus der Stuttgarter Zeitung  
Robin Szuttor – 03.10.2024 – 18:00 Uhr  


Erich Buchin (1882-1943). Foto: Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA Baden-Württemberg/Archiv

Erich Buchin ist als Held aus dem Ersten Weltkrieg heimgekommen. Von den Nazis hält er nichts. Man hängt ihn in den „Blutnächten von Plötzensee“. 

Erich Buchin wusste, was Krieg ist. Er kannte das Maulwurfsleben in den Schützengräben. Die ewig entscheidungslosen Materialschlachten. Die Splitterhagel, die wie Schnitter durch Soldatenreihen mähten. Die Kraterlandschaften aus blutgetränktem Böden, wie von einer anderen Welt. Die Chlorgastoten, die vor dem Krepieren noch ihre Lungen stückweise auskotzten. Die schwer traumatisierten Kameraden, die über all dem Schrecken die Sprache verloren oder in ein bis dahin ungekanntes Dauerzittern verfielen, für das man im Laufe des Ersten Weltkriegs den Begriff „Granatfieber“ fand.

Vielleicht war Buchin von Beginn an gegen Hitler, weil der geradewegs in den nächsten Krieg marschierte. Vielleicht wollte ein Mann wie Buchin, dekortierter Veteran und mittlerweile im 62. Lebensjahr, einfach nicht den Mund halten. Vielleicht war er auch zu vertrauensselig geworden und sein Gespür für Menschen, das sein Beruf unweigerlich ausgebildet hatte, verfing nicht länger in solch vertrackten Zeiten. Buchin endete am Galgen, weil er sich des Verbrechens schuldig machte, seine Zweifel am Sieg Deutschlands auszusprechen.

Mit Eisernem Kreuz aus dem Krieg zurück
Buchin wird 1882 in Magdeburg geboren, macht nach der Realschule eine kaufmännische Ausbildung, arbeitet dann im Außendienst mehrerer Firmen, bis er 1914 an die Westfront eingezogen wird. Er kommt mit dem Eisernen Kreuz vom Krieg zurück und findet, was vielen Heimkehrern nicht gelingt, gleich wieder Tritt im zivilen Leben. Zehn Jahre arbeitet er für die Berliner Bergmann Elektrizitätswerke, 1933 wechselt er zur AEG in Bad Cannstatt. Mit seiner Frau Auguste bezieht er eine Wohnung in der Bismarckstraße im Stuttgarter Westen.

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Der Stolperstein für Erich Buchin. Foto: Stolpersteine/privat

Mit den Nationalsozialisten will Erich Buchin nichts zu tun haben, er gibt sich auch wenig Mühe, das zu verheimlichen. Junge NSDAP-Mitglieder machen jetzt Karriere, er dagegen wird im Cannstatter AEG-Büro immer unbedeutender. Im Sommer 1943, nicht mehr lange und er ist pensionsberechtigt, überträgt man ihm noch eine Außendienststelle im lothringischen Metz. Auguste, die vorerst in Stuttgart bleibt, besucht ihn am 1. August. Es ist ihr letztes Beisammensein.

Drei Tage später fährt Erich Buchin mit dem Zug nach Amansweiler (heute Amanvillers). Die letzten vier Kilometer nach Ronhofen (heute Roncourt) geht er zu Fuß. Dort will er dem Betriebsführer der Jakobus-Grube, Karl Fett, seine AEG-Produkte anbieten. Auf dem Weg kommt Buchin zufällig ins Gespräch mit der Hausfrau Therese Pingel. Dabei geht es auch um Deutschland. Buchin sagt: „So lange Hitler am Ruder ist, bekommen wir keinen Frieden.“ Auch später bei Karl Fett wird, nachdem die geschäftlichen Angelegenheiten erledig sind, die politische Lage zum Thema. Buchin sagt, er halte den Weltkrieg für verloren. Und damit ist, auch wenn er das auf der Heimreise wahrscheinlich nicht ahnt, sein Schicksal entschieden.

Karl Fett beklagt sich am Tag darauf bei der Metzer AEG über Buchins Haltung. Therese Pingels Ehemann Karl, ein SA-Mann, ruft ebenfalls dort an. Weil er sich mit seiner Beschwerde aber nicht ernst genommen fühlt, belastet er Buchin an anderer Stelle.
Was immer diese Leute zu ihrem Handeln bewegen mag. Das Tückische daran ist, dass man kein glühender Nazi, nicht einmal besonders niederträchtig sein muss, um zum Anschwärzer zu werden. Die Angst reicht schon als Motiv. Der NS-Staat hat die Bürger im Eisengriff. Sie sind verpflichtet, Hinweise auf Landesverrat anzuzeigen. Was, wenn Buchin einen mit seinem Reden aufs Glatteis führen wollte? Wenn rauskäme, dass man ihm das durchgehen ließ? Waren seine Äußerungen schon Landesverrat? Und wenn man das nicht meldet, ist man dann selber verdächtig? Da braucht es Gewissensstärke, um menschenfreundlich zu bleiben. Vielleicht wäre Buchin auch aufgeräumter gewesen und vorsichtiger mit seinen Worten, wenn nicht die Mutter von Auguste zuvor bei einem Luftangriff ums Leben gekommen wäre. Aber gesagt ist gesagt.

Ein kritischer Brief und ein Spottgedicht
Am 12. August holt die Gestapo ihn an seiner Arbeitsstelle ab. Er darf sich noch Waschzeug und Wäsche aus seinem gemieteten Zimmer holen. Bei der Durchsuchung findet sich ein nicht abgeschickter Brief an seine Frau, in dem Buchin davon berichtet, dass man in Elsass-Lothringen damit rechne, bald wieder französisch zu werden. „Ich vermute einen Umsturz in zwei bis drei Monaten“, schreibt er. Gefunden wird außerdem ein Flugblatt mit dem Spottgedicht „Es ist ein Heß entsprungen auf einer Messerschmitt . . .“ – gemünzt auf Reichsminister Rudolf Heß. Es sieht nicht gut aus für Buchin.

Seine Frau erfährt erst davon, als zwei Gestapo-Beamte vor ihrer Tür in Stuttgart stehen. Die Durchsuchung der Wohnung bleibt ergebnislos. Gleich am nächsten Tag fährt Auguste Buchin nach Metz, darf Erich aber nicht sehen. Über den Haftgrund erfährt sie nur: „Ihr Mann hat dämlich gequatscht.“ Sie versucht, mithilfe eines Rechtsanwalts etwas für ihren Mann zu tun. Aber der Jurist kann ihr nur sagen: „Wer in den Händen der Gestapo ist, kommt da nicht mehr raus.“


Foto: Stadtarchiv/101-FN250-9657

Nächste Station für Erich Buchin ist das Untersuchungsgefängnis in Berlin-Moabit. Eine Woche später, am 6. September 1943, wird der Fall vor dem Volksgerichtshof verhandelt – unter dem Vorsitz seines berüchtigten Präsidenten Roland Freisler.

Wie es Buchin erging, ist allenfalls zu erahnen. Es gibt Film- und Tonaufnahmen vom Prozess gegen die Beteiligten des Hitler-Attentats vom 20. Juli: Freisler überschüttetet sie so mit Häme und Hass, dass selbst die Nazis davor zurückschrecken, die Mitschnitte in der „Wochenschau“ zu zeigen. „Sie sind ja ein schäbiger Lump“, schreit er Ulrich-Wilhelm Graf von Schwerin zusammen. „Was fassen Sie sich dauernd an die Hose, Sie schmutziger alter Mann?“, demütigt er Erwin von Witzleben, dem vor der Verhandlung Hosenträger und Gürtel abgenommen wurden. „Sie sind ja ein feines Früchtchen“, herrscht er Josef Wirmer an, „aber mit Ihnen werden wir fertig.“ Schutzlos stehen die Angeklagten vor „Hitlers Blutrichter“, wie man Freisler nennt. Er will ihnen die Würde nehmen – und verliert sie doch nur selbst.

Wo fast 3000 getötet wurden
In Sachen Buchin erkennt er schließlich für Recht: „Erich Buchin hat in diesem Sommer deutschen Volksgenossen gegenüber defaitistische Reden geführt und dabei vor der Person des Führers nicht halt gemacht. Er ist dadurch für immer ehrlos geworden und wird mit dem Tode bestraft.“

In der Urteilsbegründung führt Freisler aus: „Wenn ein Mann, der gebildet sein will, heute – auf dem Höhepunkt unseres Ringens um unsere Freiheit und unser Leben als Volk – sagt, mit dem Führer kämen wir zu keinem Frieden, oder wenn er sagt, wir hätten den Krieg verloren, so macht er sich damit zum Propagandisten unserer Feinde in ihrem Nervenkrieg gegen unsere seelische Haltung. Ein solcher Mann kann vor den Augen unserer Soldaten nicht mehr bestehen.“

Am nächsten Morgen überstellt man Buchin ins Berliner Strafgefängnis Plötzensee. Dort werden in der Nazizeit fast 3000 Menschen enthauptet oder erhängt – darunter Mitglieder der Roten Kapelle, die Widerstandsgruppe um Graf von Stauffenberg, die SPD-Politikerin Johanna Kircher, Priester Jakob Gapp, der auf der Kanzel gegen das Nazi-Weltbild anpredigte. Und Erich Buchin.

Die „Blutnächte von Plötzensee“
Bei einem nächtlichen Luftangriff auf Berlin ein paar Tage zuvor war die Strafanstalt schwer getroffen worden. Weil in den Wirren drei Häftlinge aus den Trümmern fliehen konnten und Hitler bereits gerügt hatte, dass ein paar Hundert anstehende Hinrichtungen noch nicht vollstreckt waren, muss es jetzt schnell gehen.

Die „Blutnächte von Plötzensee“ beginnen: Allein vom Abend des 7. September bis zum Morgen des 8. September werden 186 Todeskandidaten exekutiert, die meisten verurteilt wegen Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung. Alle halbe Stunde führt man eine Gruppe von je acht Menschen zum Galgen. Nach zwölfstündiger Pause geht es dann am Abend des 8. September wieder weiter. In den folgenden zwei Nächten henkt Scharfrichter Röttger noch einmal 60 Menschen.

Erich Buchin ist einer der ersten. Er stirbt am 7. September um 22.50 Uhr. Im Schnellverfahren wurde ein Gnadenerweis für ihn abgelehnt. Es gab noch gar keinen Vollstreckungsbeschluss, er wird dann aber rückwirkend erteilt. Auguste Buchin in Stuttgart weiß nichts von alldem. Am 10. September wird sie erneut über Stunden von der Gestapo verhört. Einen Tag darauf erhält sie einen Brief vom Gefängnispfarrer Reymann. „Erich Buchin“, liest sie, „hat bis zuletzt in Liebe Ihrer gedacht. Dann ist er tapfer und gefasst den letzten schweren Gang gegangen.“

Später wird sie auch noch Post von der Staatsanwaltschaft bekommen. Sie muss, wie alle Angehörigen der Hingerichteten, die angefallenen Kosten tragen: 1,50 Reichsmark für jeden Hafttag, 300 Reichsmark für die Hinrichtung und 12 Pfennige für das Porto zur Übersendung der Kostenrechnung.