Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Jan Sellner – 26.11.2024 – 16:20 Uhr
In der Stöckachstraße 28 verlegte Künstler Gunter Demnig einen Stolperstein für Elisabeth Guttenberger. Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko
Zu den mehr als 1000 Stolpersteinen, mit denen in Stuttgart Naziopfer gedacht wird, kamen am Dienstag sechs weitere hinzu. Einer erinnert an die Leidens- und Lebensgeschichte von Elisabeth Guttenberger, die durch den Naziterror mehr als 30 Familienangehörige verlor.
Es kommt nicht oft vor, dass ein Stolperstein für jemanden verlegt wird, der bis vor Kurzem noch lebte; in der Regel erinnern die Steine des Kölner Künstlers Gunter Demnig, die auf Recherchen von lokalen Stolperstein-Initiativen fußen, an Menschen, die dem Naziterror zum Opfer fielen. Der Stein, der am Dienstag in Anwesenheit von Schülerinnen und Schülern in der Stöckachstraße 28 für Elisabeth Guttenberger, geborene Schneck, verlegt wurde, stellt insofern eine Ausnahme dar. Guttenberger ist am 25. März dieses Jahres 98-jährig in Wildberg verstorben.
Was die aus einer Sintifamilie stammende Elisabeth Guttenberger unter den Nazis erlebte und erlitt, rechtfertigt nach Ansicht von Gudrun Greth von der Stolperstein-Initiative Stuttgart-Ost, die freundschaftlich verbunden war, jedoch allemal ein solches Gedenken. Sie selbst war damit einverstanden, dass nach ihrem Tod ein Stein mit ihrem Namen in einer Reihe mit den bereits dort eingelassenen Steinen von Josef, Sofie, Donatus, Josef Maria, Gisela und Pauline Schneck verlegt wird.
Gedenksteine für die hier wiedervereinte Familie Schneck – mit dem neuen Stein für Elisabeth Schneck im Zentrum. Schüler des Gymnasiums Korntal legten Rosen nieder. Foto: Jan Sellner
Fünf von ihnen – ihre Eltern Josef und Sofie und ihre jüngeren Geschwister Gisela und Josef Maria sowie ihre ältere Schwester Pauline – wurden in Auschwitz ermordet, ihr älterer Bruder Donatus, der ebenfalls in Auschwitz war, starb später bei einem Flugangriff. Viele weitere nahestehende Verwandte, darunter beide Großmütter, starben in dem Vernichtungslager. Am Ende des Krieges waren mehr als 30 Schnecks tot, auch ihre insgesamt vier Geschwister, weil Sinti und Roma in der Rassenideologie der Nazis keinen Platz hatten.
Auch Elisabeth war im März 1943, wo die Familie damals lebte, nach Auschwitz deportiert worden – als damals 17-jährige gelernte Bäckereiverkäuferin. Den Tag ihrer Deportation beschrieb sie so: „An diesem Tag wurde all das, was unser Leben bisher ausgemacht hatte, unwiederbringlich zerstört. Wie Tiere hat man uns in Güterwaggons gepfercht.“ Dass die Familie Schlimmes erwarten würde, ahnte sie, als ein Vetter von ihr einen Lokführer fragen konnte: „Was ist denn dieses Auschwitz?“ und in ein Gesicht blickte, das Bände sprach. In Auschwitz angekommen, „hörten wir auf, Menschen zu sein“, schrieb sie.
Die 1926 in Stuttgart geborene Elisabeth Schneck, später Guttenberger, als junges Mädchen. Foto: Privat
Dass Elisabeth Auschwitz überlebte, hat nach Einschätzung von Gudrun Greth mit ihrer auffallend schönen Handschrift zu tun, die sie schon als junges Mädchen pflegte. Sie wurde im Lager in der Schreibstube eingesetzt und musste Sterbemeldungen eintragen – es waren Tausende. „Darunter auch die ihres Vaters, ihres kleinen Bruders und weiterer Angehöriger“, berichtet Gudrun Greth. Im August 1944 wurde sie ins KZ Ravensbrück überstellt und dann ins Außenkommando Graslitz zur Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion gebracht. Im April 1945 gelang ihr und einer Cousine die Flucht.
In Schorndorf begann ihr neues Leben, auf dem jedoch immer wieder die Schatten des Erlittenen lasteten und mächtig wurden, etwa wenn sie als Zeugin in NS-Prozessen gegen Nazischergen aussagte. Ihre Hoffnung richtete sie, die mit ihrem Mann Albert Guttenberger selbst keine Kinder bekommen konnte, auf die junge Generation: „Es ist mein größter Wunsch, dass heutige und künftige Generationen aus unseren schrecklichen Erfahrungen lernen und dass Auschwitz nie wieder Wirklichkeit werden kann“, betonte die gläubige Katholikin oft.
Fast 50 Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Korntal nahmen an der Stolperstein-Verlegung im Stuttgarter Osten teil. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko
Ihre Hoffnungen sah sie bestätigt, als 2007 in der Ostheimer Schule, die sie als Kind besucht hatte, eine Schülerforschungs-AG eine Ausstellung zur Geschichte ihrer Familie organisierte. Die Schüler erhielten dafür den Alfred-Hausser-Preis der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Elisabeth Guttenberger kehrte dafür an ihre alte Schule zurück, mit der sie „die schönste Zeit ihres Lebens“ verband.
Vermutlich hätte es sie gefreut, dass jetzt bei der Gedenksteinverlegung viele junge Gesichter anwesend waren: rund 50 Schülerinnen und Schüler des Korntaler Gymnasiums mit ihrem Lehrer Jan Reiser. Im vergangenen Jahr hatten sie an einer Stolperstein-Führung im Stuttgarter Osten teilgenommen und sich für das Leben von Elisabeth Guttenberger interessiert. Anschließend beschlossen sie, Geld für einen Stolperstein zu spenden. Bei der von den Gitarristen Gismo Graf und Joshi Graf umrahmten feierlichen Verlegung am Dienstag wollten sie dabei sein und legten Rosen vor dem letzten selbst gewählten Wohnort der Familie am ehemaligen EnBW-Areal nieder, „weil uns ihre Geschichte nahegeht“, wie eine Schülerin sagte.
Neben dem Gedenkstein für Elisabeth Guttenberger wurden am Dienstag weitere fünf Steine in Stuttgart verlegt. Drei erinnern an Stuttgarter, die aufgrund ihrer geistigen Beeinträchtigung ermordet wurden: Der jüngste von ihnen war zum Zeitpunkt seiner Ermordung ein Jahr und zehn Monate alt – der Botnanger Gerhard Eggensperger (Beethovenstraße 23). Opfer des Euthanasieprogramms der Nazis wurden auch der 18-jährige Herbert Fröhlich (Bönnigheimer Straße 34) und der 42 Jahre alte Willy Rettich (Wattstraße 20), beide aus Zuffenhausen. Rettich lebte in der Heil- und Pflegeanstalt in Stetten/Remstal, Fröhlich in der Anstalt Mariaberg bei Gammertingen. Beide Männer wurden 1940 in das zur Tötungsanstalt umgebaute Schloss Grafeneck verschleppt und dort ermordet, weil die Nazis Menschen mit Behinderungen für lebensunwert hielten.
Stolperstein für Herbert Fröhlich in der Bönnigheimer Straße 34 Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
Ein weiterer Stolperstein wurde am Dienstag in der Eichstraße 9 in Stuttgart-Mitte verlegt. Er erinnert an Emil Wilhelm Strohhäcker, der als „Arbeitsscheuer“ im KZ Sachsenhausen einsaß und später im KZ Mauthausen, wo er unter ungeklärten Umständen starb.
In der Föhrichstraße 63 in Feuerbach wird Wilhelm Friedrich Stähles mit einem Stein gedacht. Er gehörte zur Luftschutzpolizei und war zu Löscharbeiten eingesetzt, als das Kaufhaus Breuninger im März 1943 nach einem Fliegerangriff brannte. Wegen des Verdachts der „Plünderung“ wurde er zum Tod verurteilt und auf der Dornhalde in Stuttgart erschossen. Seine Witwe sah hinter dem Todesurteil eine Intrige.