Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Theresa Schäfer 12.05.2024 – 18:00 Uhr
Sie dürften einander gekannt haben, auch wenn es dafür heute keine Belege mehr gibt: Georg Wohlleben (links) und Walter Häbich aus Botnang. Foto: privat/Stolperstein-Initiative Stuttgart
Zwei junge Männer aus dem „roten Botnang“ stellen sich in den 1930er Jahren den Nationalsozialisten entgegen. Beide bezahlen ihre Haltung mit dem Leben. Was trieb Georg Wohlleben und Walter Häbich an?
Höchstens 60 Meter. So weit liegen ihre Stolpersteine auseinander. Walter Häbich und Georg Wohlleben. Ob sie sich kannten? Es ist anzunehmen, auch wenn es dafür heute keine Belege mehr gibt. Nur anderthalb Jahre waren die beiden Botnanger auseinander. Georg Wohlleben wurde im Februar 1903 geboren, Walter Häbich kam im Oktober 1904 auf die Welt. Der Ältere wohnte in der Neuen Stuttgarter Straße 58, der Jüngere in der Nummer 48. Heute heißt sie Beethovenstraße, aber die Häuser von Westheim stehen immer noch. Aus Backstein, mit Fachwerk und jedes ist anders hübsch – dort ein Erker, hier ein kleiner Balkon, kleine Gärtchen vor der Haustür. Westheim war Walter Häbichs und Georg Wohllebens Zuhause, die Arbeitersiedlung, wo viele Sozialisten waren oder Kommunisten. Jedenfalls keine Nazis, im Gegenteil. Walter Häbich und Georg Wohlleben mussten sterben, weil sie sich dem Hitler-Regime entgegenstellten.
Der nette, hilfsbereite, sportliche Walter
Der Stolperstein für Walter Häbich war 2007 der erste, der vom Kölner Künstler Gunter Demnig in Botnang für ein Opfer des Nationalsozialismus verlegt wurde. Die 2018 verstorbene Gretel Weber erinnerte bei der Verlegung an ihren Ziehbruder. Gretel, geborene Kaupp, eine in Stuttgart bekannte Antifaschistin, kommt als Baby in die Familie Häbich, nachdem ihre leibliche Mutter das Mädchen nicht versorgen kann. Ein bisschen verliebt sei sie immer in den jüngsten Häbich-Sohn gewesen, als Kind habe sie den netten, hilfsbereiten und sportlichen Walter sogar heiraten wollen, verriet Gretel Weber fast 90 Jahre später Schülern, die sie für ein Filmprojekt des Stadtjugendrings befragten.
Jedes Haus ein bisschen anders, aber alle gehören zur ehemaligen Botnanger Arbeitersiedlung Westheim. Foto: StZN/Schäfer
Walter will Zeichner werden, doch er muss beitragen zum spärlichen Familieneinkommen, nachdem sein Vater schon 1913 gestorben war und seine Mutter Emma die Gastwirtschaft der Familie nicht halten kann. Also macht er 1918 eine Ausbildung zum Bandagisten. Ein gefragter Beruf nach dem Ersten Weltkrieg, als zahllose Soldaten versehrt von den Schlachtfeldern zurückkehren und Prothesen brauchen. Doch Walter hasst diese Arbeit.
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Ein strammer Kommunist und Parteisoldat
Freude machen ihm Bücher. Walter liest, beschäftigt sich mit Philosophie, stößt auf Marx und Engels. Er tritt in den Kommunistischen Jugendverband ein und wird 1928 sogar dessen Reichsvorsitzender. Als KPD-Funktionär kommt er herum, wirkt auch in Halle, Hamburg und München. „Man kann davon ausgehen, dass er ein sehr strammer Parteisoldat war“, sagt Waldemar Grytz, der Vorsitzende der Naturfreunde Botnang, der sich intensiv mit der Geschichte des Stadtbezirks beschäftigt hat. „Diese Funktionäre nahmen ihre Befehle direkt aus Moskau entgegen.“
Botnang sei damals „eines der ärmsten Dörfer rund um Stuttgart“ gewesen, sagt Grytz. In dem als „Klein-Moskau“ bekannten Flecken ist Walter nicht der einzige Kommunist. Schon gar nicht in Westheim, das zwischen 1902 und 1904 vom „Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen“ für Arbeiterfamilien gebaut wird. Doch bereits in der Weimarer Republik sind die Kommunisten dem Staat ein Dorn im Auge. Walter muss schon 1923 und 1931 auf dem Hohenasperg Haftstrafen absitzen. Nach seiner Freilassung kehrt er nach München zurück, wird dort Redakteur der kommunistischen „Neuen Zeitung“.
Westheim im Jahr 1942. Im zweiten Haus von links lebte bis zu seiner Verhaftung Georg Wohlleben. Foto: Stadtarchiv Stuttgart/101-FN250-11803
Als Adolf Hitler und die Nationalsozialisten 1933 die Macht ergreifen, gehen Walter und seine Zeitungskollegen in den Untergrund. Aus einem katholischen Kloster heraus wird die „Neue Zeitung“ weiter in Umlauf gebracht. Im September 1933 fliegt die heimliche Druckerei auf, Walter und seine Genossen werden verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Alois Stadler ist mit Häbich dort inhaftiert. Nach dem Krieg schreibt er seine Erinnerungen auf, die heute in der Gedenkstätte in Dachau aufbewahrt werden: „Mein Freund Walter, der wunderbare Mensch. Trotz der Ratschläge seiner Freunde draußen hatte er sich nicht in Sicherheit gebracht, war nicht in die Emigration gegangen, sondern hatte sich vom ersten Tage an dem Widerstand verschrieben. Flugblätter aus seiner Feder waren in Umlauf gekommen und fieberhaft hatte die Gestapo nach dem Verfasser gesucht.“
Die Nazis stecken ihre politischen Gegner in Dunkelhaft, quälen und foltern sie, damit sie ihre Mitstreiter verraten. Stadler schildert die grauenhaften Zustände, denen die Häftlinge ausgesetzt sind: „Bei völliger Finsternis in Ketten, nur alle drei Tage eine Wassersuppe, keine Hygiene (…) und dazu ständige Quälereien und Misshandlungen.“
Der Stolperstein für Walter Häbich ist der erste, der in Botnang verlegt wurde. Foto: StZN/Schäfer
Als im Sommer 1934 SA-Chef Ernst Röhm ermordet und seine Sturmabteilung zerschlagen wird, entledigen sich die Nazis auch etlicher ihrer außerparteilichen Gegner: Am 1. Juli 1934 wird Walter Häbich in Dachau erschossen. Seine Mutter Emma erfährt erst im Oktober, dass ihr Sohn nicht mehr lebt. Die Gestapo händigt ihr eine Urne aus. Gretel Weber erinnerte sich 2013 an die Beisetzung auf dem Botnanger Friedhof. Die wird zum stillen Protest gegen das Naziregime. Unter den Augen der Gestapo kommen viele hundert Menschen zum Familiengrab. Trauerreden haben die Machthaber verboten. Aber Walters Freunde legen rote Nelken aufs Grab – und schütteln Emma still die Hand. Die Inschrift auf dem Grabstein hat Walter selbst gewählt: „Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne“.
Auch Georg verliert früh den Vater
Ob auch Georg Wohlleben auf dem Botnanger Friedhof war, als Walter Häbich zu Grabe getragen wurde? Zumindest ist auch Georg ein Gegner der Nationalsozialisten. Das Botnanger Ehepaar Jörg und Ingeborg Gaiß, das sich für die Stuttgarter Stolperstein-Initiative im Stadtbezirk engagiert, hat monatelang seine Geschichte recherchiert. „Da wird einem ein Mensch ganz nah, obwohl man ihn nicht gekannt hat.“ Auch Georg Wohlleben verliert früh seinen Vater: Als dieser 1914 stirbt, ist der Bub erst zehn Jahre alt. Seine herzleidende Mutter bringt ihre vier Kinder als Schneiderin durch. Georg verdingt sich erst als Hilfsarbeiter, später bekommt er bei einem Dachdecker im Stuttgarter Westen eine Lehrstelle.
Schorsch ist hilfsbereit und kinderlieb, ein Foto zeigt einen attraktiven jungen Mann in Pullunder und Knickerbockerhosen. Die 2019 verstorbene Hildegard Peisert erzählte den Gaiß’ 2012, wie sich Georg um sie und ihre Schwester gekümmert habe, wenn ihre Eltern im Geschäft am „Schirmereck“ an der Hummelbergstraße stehen und Zigaretten und Straßenbahnbillets verkaufen. Ihr „Kindermädle“ sei der Schorsch gewesen, er geht mit den zwei Mädchen in den Wald oder spielt Spiele mit ihnen. Er hat Zeit, denn immer wieder ist er in den Jahren der Weltwirtschaftskrise ohne Arbeit.
Bei der Verhaftung angeschossen
Auch Georg denkt links, Mitglied der KPD ist er aber nie. Dennoch engagiert er sich bereits in der Weimarer Republik im Kampfbund gegen den Faschismus und für die Rote Hilfe, die vor allem Familien inhaftierter Kommunisten finanziell unterstützt und juristischen Beistand anbietet. Für sie macht er auch noch den Mittelsmann, nachdem 1933 die Nazis an die Macht kommen und die Rote Hilfe verboten wird. Seine Nichte Helga Maegraith, die ihren Onkel als kleines Mädchen noch erlebt hat, erinnert sich heute, dass in ihrer Familie auch erzählt wurde, Georg habe geholfen, jüdische Familien in die Schweiz zu bringen. Im Mai 1935 wird er verhaftet. „Einen Zettel, auf dem er für die Rote Hilfe Namen notiert hatte, hat er noch schnell zerkaut und runtergeschluckt, damit die Gestapo ihn nicht findet“, sagt seine heute 85 Jahre alte Nichte. Bei seiner Verhaftung wird Georg angeschossen, die Kugel bleibt in seinem Oberschenkel stecken.
2008 wurde für Georg Wohlleben ein Stolperstein verlegt. Foto: StZN/Schäfer
Zwei Jahre sitzt Georg in Untersuchungshaft, 1937 wird er wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu fünfeinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine restliche Strafe sitzt er in den Gefängnissen von Ludwigsburg und Welzheim ab. Ohne ein weiteres Verfahren kommt er im Dezember 1940 im Konzentrationslager von Dachau in „Schutzhaft“, wie die Nazis das nennen. Erst hier wird ihm die Pistolenkugel aus dem Oberschenkel operiert, die KZ-Ärzte durchtrennen dabei mehrere Sehnen und Nerven, sodass sein Bein lahm bleibt. Ein Mal darf seine Schwester, Helga Maegraiths Tante, Georg in Dachau besuchen. In einem Brief, den er an seine Familie schreiben kann, appelliert er an sie, es nicht zu glauben, wenn die Behörden schreiben würden, er habe sich das Leben genommen. Offenbar bekommt er mit, welche fadenscheinigen Gründe die Nazis für den Tod der KZ-Häftlinge vorgeben.
Wöbbelin war „die Hölle“
1944 wird Georg Wohlleben ins Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg verlegt. Als die Front in den letzten Kriegsmonaten immer näher an Neuengamme heranrückt, schickt die SS viele Häftlinge in Außenlager. Georg kommt im Februar 1945 nach Wöbbelin im westlichen Mecklenburg. Das Lager besteht nur zehn Wochen. Die Häftlinge leben dort unter katastrophalen Bedingungen. „Von Februar bis März mussten die Männer dort schwerste Arbeiten verrichten, um ein Steinbarackenlager zu bauen“, erzählt Cornelia Neumann, die pädagogische Mitarbeiterin der Gedenkstätte Wöbbelin.
Mitte April werden die Arbeiten eingestellt. Die Häftlinge leben in den unfertigen Baracken, ohne Böden, ohne Fenster, ohne Wasseranschluss. Nicht einmal Bettgestelle gibt es. Es gibt auch kaum etwas zu essen, von einem Brot müssen zehn Menschen satt werden. Von nun an sterben täglich 20 bis 80 Männer. „Wöbbelin war ein Sterbelager. Sogar Menschen, die zuvor in Auschwitz eingesperrt waren, sagten später, Wöbbelin sei die Hölle gewesen“, sagt Neumann. Als die Amerikaner das Lager am 2. Mai befreien, finden sie Leichen und ausgemergelte Menschen, die dem Tod näher sind als dem Leben. Bis Ende Juni sterben noch viele an Entkräftung und Krankheiten – am Ende werden von 5000 Häftlingen 1000 umgekommen sein.
Von dieser Hölle kehrt Georg Wohlleben nach Kriegsende nach Botnang zurück. Auf einem Fahrrad hat er mit seinem lahmen Bein den langen Weg vom Norden in den Südwesten gemacht. Er sei so abgemagert gewesen, dass sie ihn kaum erkannt habe, erinnerte sich Hildegard Peisert 2012. Schorsch ist schwer krank: Aus der KZ-Haft hat er eine offene Tuberkulose zurückbehalten. Helga Maegraith erinnert sich, dass sie nicht in seine Nähe darf, um sich nicht anzustecken. Als Georg von seiner Zeit im Lager erzählt, fällt seine Mutter in Ohnmacht. „Danach hat er nicht wieder davon gesprochen, um sie zu schonen.“ Georg versucht, in Botnang ein Fuhrunternehmen zu gründen, beantragt dazu als Opfer des Nationalsozialismus Hilfe beim Amt für Wiedergutmachung. Doch am 16. November 1947 erliegt er seiner Tbc. Er wird nur 44 Jahre alt. Bei der Verlegung seines Stolpersteins ließ seine Nichte das „Lied der Moorsoldaten“ spielen. Es wurde 1933 von KZ-Häftlingen des Lagers Börgermoor geschrieben.
Ehrengrab auf dem Botnanger Friedhof
Seine Lebensgefährtin hatte sich 1949 dafür eingesetzt, dass Georg Wohlleben auf dem Botnanger Friedhof ein Ehrengrab erhält. Die Bildhauer Yelin und Schönfeld schufen aus weißem Stein einen knienden nackten Mann, der sich seiner Fesseln entledigt hat. Als Helga Maegraith vor ein paar Jahren die Statue mit der Heckenschere vom wuchernden Efeu befreite, sagte eine ältere Botnangerin im Vorbeigehen: „Schneidet Se net ganz nunder, sonscht sieht m’r doch älles.“
Zu Walter Häbichs Grab ist es nicht weit. Die beiden sind im Tod, was sie im Leben waren: Nachbarn. Warum gerade diese beiden jungen Männer aus Westheim den Mut fanden, sich dem Naziregime in den Weg zu stellen? Janine, Helga Maegraiths Tochter, ist Historikerin. Sie hat eine Vermutung: „Vielleicht haben sie ja den Rückhalt einer ganzen Nachbarschaft gespürt.“