Artikel in der Stuttgarter Zeitung
Maximilian Kroh 09.06.2024 – 17:00 Uhr
Das Ehepaar Grimminger beim Urlaub in der Schweiz 1928. Foto: Grimminger-Stiftung
Eugen Grimminger wurde als Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Dass er seine Frau Jenny nicht vor der Deportation Auschwitz schützen konnte, hat er sich nie verziehen.
Eugen Grimminger war ein offenherziger, freundlicher, umtriebiger Mensch. So kann man es in Berichten über ihn lesen, so erzählen es die Menschen, die ihn kannten. Und dennoch gab es etwas, über das er lieber schwieg, als andere daran teilhaben zu lassen. Dabei hätte er doch eigentlich stolz darauf sein können, zur Zeit des Nationalsozialismus Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gewesen zu sein.
Doch nein, in der Familie Grimminger war diese Zeit kaum ein Thema. Nur ein einziges Mal habe sie sich getraut, ihn danach zu fragen, sagt Ingeborg Pietzker. Ihr Mann Hartmut ist Grimmingers Großneffe, trotzdem spricht auch Ingeborg vom „Onkel Eugen“. Im Jahr 1978 war das, erinnert sie sich, beim Kaffeetrinken. „Er hat gesagt: Er spricht darüber nicht gerne, denn er hat große Schuld.“
Die „Mischehe“ schützt zunächst vor der Deportation
Welche Schuld kann einer haben, der für den Kampf gegen das NS-Regime sein Leben riskierte? Es lässt sich nachempfinden, was er meint, wenn man seine Geschichte kennt. Denn Eugen Grimminger verlor zwar nicht sein Leben, dafür jedoch seine Frau Jenny.
Nach dem Auffliegen der Weißen Rose im Februar 1943 und Grimmingers Verhaftung im März war Jenny Grimminger, eine Jüdin, den Nazis schutzlos ausgeliefert. Hatte sie bis dahin ihre „Mischehe“ vor einer Deportation bewahrt, wurde sie nun, noch bevor ihr Mann verurteilt war, im April 1943 ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Von dort aus kam sie nach Auschwitz, wo sie im Dezember 1943 ermordet wurde.
Kennengelernt hatte sich das Ehepaar Grimminger auf dem Oberamt Crailsheim, wo beide nach dem Ersten Weltkrieg angestellt waren. Bereits 1922 folgte die Hochzeit. „Ich habe diese Frau verehrt und aus Liebe geheiratet“, sagte Eugen Grimminger noch im Gestapo-Verhör im März 1943. Zu einem Zeitpunkt also, an dem jedes seiner Worte über Leben und Tod entscheiden konnte, und zu dem das Bekenntnis zu einer Jüdin die Überlebenschancen eines „Hochverräters“ sicher nicht erhöhte.
Es war eine Heirat, die in Crailsheim und bei Eugens Verwandtschaft auf wenig Unterstützung stieß – nicht zuletzt, weil Grimminger seinerseits aus der evangelischen Kirche austrat. „Ich wurde angesprochen, ob ich mich nicht schäme. Meine Freunde zogen sich nach und nach zurück“, erinnerte sich der gebürtige Crailsheimer nach dem Krieg an diese Zeit.
Jenny und Eugen Grimminger im Sommer 1932. Foto: Grimminger-Stiftung
Schon vor der Hochzeit war das Paar nach Stuttgart gezogen, Eugen Grimminger nahm dort eine Stelle beim Landesverband landwirtschaftlicher Genossenschaften an. Bis 1930 stieg er zum Leiter der Prüfungsabteilung für Produktivgenossenschaften auf, 1935 zog das Ehepaar in ihre letzte gemeinsame Wohnung im Stuttgarter Süden. Dort, in der Altenbergstraße 42, sind heute auch ihre Stolpersteine verlegt.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 hatten für die Grimmingers allerdings die Probleme begonnen. Zunächst wurde Eugen Grimminger wegen „jüdischer Versippung“ die Zulassung zum Wirtschaftsprüfer verweigert, die er bereits 1932 beantragt hatte. Seinen Job beim Landesverband behielt er zunächst. Als Experte für die Milchwirtschaft war er den Nazis von Nutzen. Dann, im April 1935 wurde er vom Kreisleiter der Crailsheimer NSDAP denunziert und kurz darauf entlassen.
Die Grimmingers unterstützen politisch Verfolgte
Seine Entlassung habe ihn „ungemein beeindruckt“, sagte Grimminger später der Gestapo, geschlagen gab er sich allerdings nicht. 1937 erhielt er entgegen aller Widerstände seine Zulassung als Bücherrevisor und machte sich mit einem Treuhand- und Beratungsbüro selbstständig. Spätestens seit der Reichspogromnacht 1938 und den immer schärfer werdenden Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung nutzte er das Büro auch dafür, politisch Verfolgte zu unterstützen.
Unter anderem brachte er 1939 erst jüdische Freunde in die Schweiz und wenig später seine Schwägerinnen Mina und Julie Stern an die französische Grenze. Von dort aus emigrierten sie zunächst nach England und wanderten 1947 in die USA aus. Einer anderen Schwester seiner Frau, Senta Meyer, und deren vier Kindern konnte Grimminger nicht helfen. Sie fielen am 26. März 1942 einer Massenerschießung im Wald von Bikernieki östlich von Riga zum Opfer.
Die Stolpersteine der Grimmingers in der Altenbergstraße. Foto: Grimminger-Stiftung
Im September 1942 trat dann die Familie Scholl ins Leben der Grimmingers. Kennengelernt hatten sich Eugen Grimminger und Robert Scholl, den Vater von Hans und Sophie, bereits 1919. Nun bat Scholl seinen alten Freund, sein Wirtschaftreuhandbüro in Ulm zu übernehmen, während er selbst eine Gefängnisstrafe absitzen musste. Das Büro war im selben Gebäude untergebracht wie die Wohnung der Familie Scholl, dort kam er auch mit den Kindern Inge, Hans und Sophie in Kontakt.
Später erzählte Grimminger, schon zu dieser Zeit von den Flugblattaktionen der „Weißen Rose“ gewusst zu haben. Im Winter 1942 erhielt er mehrmals Besuche von Hans Scholl und Alexander Schmorell, unterstützte die Gruppe mit mehreren tausend Reichsmark und wurde ihr wichtigster Finanzier. Grimminger tat das aus Überzeugung und gegen den Willen seiner Frau Jenny, die die Gefahr ahnte.
In den Verhören nach der Verhaftung der Geschwister Scholl im Februar 1943 fiel irgendwann auch Grimmingers Name, am 2. März 1943 wurde er verhaftet. Im zweiten Prozess gegen die „Weiße Rose“ vor dem Volksgerichtshof beantragte die Anklage für ihn wie auch für Alexander Schmorell, Willi Graf und Kurt Huber die Todesstrafe.
Dank der Zeugenaussage seiner treuen Mitarbeiterin Tilly Hahn entging er diesem Schicksal als einziger; er wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach Ansicht des Gerichts hatte Hahn es geschafft, „seine Persönlichkeit in etwas besserem Licht erscheinen“ zu lassen. Sie hatte ausgesagt, „dass er für seine Angestellten, die Soldaten sind, besonders viel tut, einem von ihnen, der schwerverletzt ist, sogar das Studium ermöglichen will.“ Dies genügte dem Gericht offenbar, Grimmingers Leben zu verschonen.
Suizidversuch in Einzelhaft
Von Einzelhaft, Nervenzusammenbrüchen und Depression schwer gezeichnet, erfuhr Grimminger im Januar 1944 vom Tod seiner Frau in Auschwitz. Es folgten ein weiterer Zusammenbruch sowie ein Suizidversuch. Auch nach seiner Befreiung aus dem Zuchthaus Ludwigsburg im April 1945 fühlte er sich für ihren Tod noch mitverantwortlich. Er stürzte sich in Arbeit, wurde von den Amerikanern zum Generalbevollmächtigten für die württembergische Landwirtschaft ernannt und im Juli zudem Direktor des Landesverbands landwirtschaftlicher Genossenschaften. Eine Stelle, die er bis zum Ruhestand 1958 behielt.
Den Gedenkstein der Familie Stern im jüdischen Teil des Pragfriedhofs Stuttgart hat Eugen Grimminger errichten lassen. /Maximilian Kroh
1947 heiratete Eugen Grimminger ein zweites Mal: Tilly Hahn, die Frau, die ihm etwas mehr als vier Jahre zuvor das Leben gerettet hatte. Gemeinsam gründeten sie 1964 die Grimminger-Stiftung, die sich dem Kampf gegen Infektionskrankheiten bei Tieren widmete. Sie lebten in Aichwald im Kreis Esslingen. Dort starb Tilly Grimminger 1982, ihr Mann vier Jahre später in Stuttgart.
Über Eugen Grimminger gibt es heute einiges zu lesen. Eine Biographie wurde über ihn geschrieben, in Crailsheim trägt eine Schule seinen Namen. Von seiner Frau Jenny dagegen ist nicht viel mehr bekannt, als in diesem Text steht. Im jüdischen Teil des Stuttgarter Pragfriedhofs, nahe der Martinskirche, steht ein Gedenkstein für die Familie Stern. Sidonie, Mina und Julie Stern sind hier beigesetzt. Auch Senta Meyers Name ist dort zu lesen, Jennys Name natürlich ebenfalls. Denn errichten lassen hat den Stein ihr Mann Eugen.