Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
Laureta Nrecaj – 03.11.2024 – 18:00 Uhr
Das Ehepaar Berta und Abraham Metzger wurde im Februar 1941 nach Polen deportiert. Daraufhin verlor sich ihre Spur. Foto: Barbara Heuss-Czisch
Barbara Heuss-Czisch hat, so gut es ging, die Geschichte ihrer Familie aufgearbeitet, darunter die von ihrer Großtante Berta und deren Mann Abraham Metzger. Sie steht exemplarisch für das Schicksal vieler jüdischer Familien in der Nazi-Zeit.
In der Fülle von Erinnerungen und Geschichten, die das Schicksal der Familie von Barbara Heuss-Czisch prägen, sticht das Leben ihrer Großtante Berta hervor. Sie lebte einst mit ihrem Mann Abraham Metzger in der Hauptstätter Straße 132 in Stuttgart. Ihr Schicksal steht exemplarisch für die tragischen Lebenswege vieler jüdischer Familien während der Zeit des Nationalsozialismus.
Auch ihre Nachfahren spüren die Auswirkungen, sowohl innerhalb der Familie als auch in ihrem eigenen Leben. „Das Thema Drittes Reich war für uns ununterbrochen präsent“, sagt Barbara Heuss-Czisch. „Wir waren Verfolgte, das war Teil unserer Identität.“ In ihrer Familie wurde viel über die Vergangenheit gesprochen, doch über die einzelnen Schicksale wissen sie wenig. Insbesondere über Berta. Denn deren Bruder Arnold, Barbaras Großvater, war der einzige Überlebende seiner Geschwister und sprach kaum über die Geschehnisse. „Wir wussten, wenn er nicht darüber redet, ist es für ihn nicht einfach“, sagt Heuss-Czisch. So widmete sie sich selbst der Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte, die sie auch nach Lemberg führte – der Heimat von Bertas Eltern.
Familie Czisch (frühere Schreibweise: Czisz oder Czysz) stammt ursprünglich aus Lemberg, einer Stadt in der heutigen Ukraine. 1880 wanderten Bertas Eltern Naftalie und Rachel (von ihrer Familie Rosa genannt) mit ihren beiden Töchtern Rosa und Fanny nach Berlin aus. Diese Zeit war geprägt von Pogromen und Armut, die viele Juden aus Osteuropa dazu trieben, neue Lebensräume zu suchen. Auch die Familie Czisch hoffte, sich in Deutschland ein besseres und sicheres Leben aufbauen zu können. Barbara Heuss-Czisch fragt sich häufig: „Warum sind sie nicht in die USA ausgewandert? Warum sind sie nicht einfach weiter gezogen?“ Das hätte ihnen vermutlich ihr grausames Schicksal erspart.
In Berlin vergrößerte sich Familie Czisch 1881 mit der Geburt von Sohn Arnold. Am 9. Juni 1889 kam Tochter Berta zur Welt, die von ihrer Familie auch liebevoll Betty genannt wurde. Auf den wenigen Fotos, die von ihr existieren, strahlt eine junge Frau Selbstbewusstsein und Eleganz aus. Zu ihrem Bruder habe sie ein besonders enges Verhältnis gehabt, was sich in den Fotografien und Briefen widerspiegelt, in denen sie ihrem Bruder einige herzliche Worte widmet, meint Barbara Heuss-Czisch. Auf einem Bild aus ihrer Jugend, das sie modisch gekleidet zeigt, schrieb sie etwa: „Als Zeichen, dass ich meinen geliebten Bruder nie vergessen werde. Betty“ oder: „Aus Liebe meinem geliebten Bruder Arnold.“ Ihre enge Bindung dürfte auch daran erkennbar sein, dass Berta ihrem Bruder im Zeitraum zwischen 1911 und 1914 von Berlin nach Stuttgart folgte, um ihn bei der Eröffnung seines Süßwarenladens „Schokoladenhaus Czisch“ zu unterstützen und dort mitzuarbeiten.
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Berta Metzger, auch Betty genannt, strahlt auf ihren Bildern stets Eleganz aus. Foto: Barbara Heuss-Czisch
In Stuttgart lernte Berta später den charmanten Kaufmann Abraham Metzger kennen. . 1914 heirateten sie, zwei Jahre später wurde ihr Sohn Nathan Willi geboren. Bis etwa 1930 habe Abraham als Reisender für eine Schokoladenfabrik gearbeitet und sei danach als Vertreter in der Textilbranche tätig gewesen, heißt es in den Entschädigungsakten.
Bertas liebevolle, aber auch humorvolle und spielerische Art, zeige sich ebenfalls in Briefen an ihren Mann, erzählt Barbara Heuss-Czisch. So schrieb sie etwa auf ein Familienbild, das Sie ihrem Mann schickte: „Ich weiß, du hast schon ganz große Sehnsucht nach mir. Sei gegrüßt, deine Betty.“
Abraham Metzger in einem Lazarett, nachdem er im Ersten Weltkrieg verletzt wurde. Foto: Barbara Heuss-Czisch
Auch über Abraham lässt sich heute vieles nur aus Fotografien schließen. Barbara Heuss-Czisch beschreibt ihn ebenfalls als offenen und liebenswerten Menschen, besonders gegenüber seiner Frau. Ein Bild, das ihn im Ersten Weltkrieg verwundet in einem Lazarett zeigt, dürfte darauf hindeuten, dass er auch bei seinen Mitmenschen beliebt war. Denn darauf ist er umringt von vielen Menschen, wie Krankenschwestern und Ärzten, die sich um ihn kümmern.
Lange währte die Idylle nicht
Berta und Abraham genossen ein gewisses Maß an Wohlstand, das jedoch mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus 1933 schnell in Gefahr geriet. Als der Druck auf jüdische Bürger zunahm, wurden ihre Lebensbedingungen zunehmend prekär. Die Arisierung der jüdischen Geschäfte, darunter das von Bertas Bruder Arnold, und das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums führten dazu, dass sie nicht mehr als Deutsche angesehen und behandelt wurden. Bertas Bruder Arnold blieb jedoch durch die Heirat mit einer „arischen” Deutschen vor dem Schlimmsten bewahrt, sagt Barbara Heuss-Czisch.
Abraham und Berta hingegen flüchteten im April 1933 mit ihrem Sohn Willi nach Tarnow (Polen), von wo sie im Herbst 1933 nach Wien umsiedelten. Sie waren gezwungen ihre Drei-Zimmer-Wohnung in der Stuttgarter Hauptstätter Straße unter dem tatsächlichen Wert zu verkaufen, um schnellstmöglich fliehen zu können. Arnold habe die Familie seiner Schwester Berta unterstützt, solange er konnte, erzählt Barbara Heuss-Czisch.
Die Stolpersteine von Abraham und Berta Metzger in der Hauptstätter Straße 132. Foto: privat
Trotz seiner Bemühungen konnte Abraham in Wien wirtschaftlich nicht Fuß fassen. Laut einer Eidesstattlichen Erklärung seines Sohnes Willi in den Entschädigungsakten erhielten sie damals Unterstützung von der Jüdischen Kulturgemeinde. Außerdem habe Abraham Aushilfsarbeiten geleistet, für die er sehr wenig bezahlt wurde. Aufgrund von Mietschulden seien sie schließlich aus ihrer Wohnung vertrieben worden. Ihr Sohn Willi versuchte sie finanziell zu unterstützen, doch ihre Not habe Abraham sogar zu einem Selbstmordversuch getrieben.
Die Deportation von Berta und Abraham am 19. Februar 1941 besiegelte ihr tragisches Schicksal: Sie wurden mit dem zweiten Transport der Gestapo Wien nach Kielce (Polen) gebracht. Seitdem gelten sie als verschollen. In den Entschädigungsakten wird der 8. Mai 1945 als Sterbedatum angegeben, doch die Nachfahrin Barbara Heuss-Czisch vermutet, dass sie kurz nach der Deportation ermordet wurden.
Nathan Willi Metzger, meist Willi genannt, war das einzige Kind von Berta und Abraham. Foto: Barbara Heuss-Czisch
Ihr Sohn Willi entging der Verfolgung und dem Grauen des Holocaust. Bereits 1933 war er mit einer jüdischen Jugendorganisation nach Palästina ausgereist. Auch wenn Berta nicht allzu erfreut über diesen Entschluss war und sich gegenüber ihrer Familie häufig besorgt zeigte, da er auf keine Postkarten antwortete, rettete ihm diese Entscheidung mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben.
Die Erinnerungen an Berta und Abraham sind in den Fotos, Briefen und Geschichten ihrer Nachkommen lebendig geblieben. Barbara Heuss-Czisch beschreibt ihre Großtante als lebendige und fröhliche Frau, deren Charakter durch die wenigen erhaltenen Dokumente spürbar werde.
„Die Leute sollen merken, dass da etwas fehlt“
Die Stolpersteine, die vor den Häusern der Opfer verlegt wurden, sind für sie nicht nur ein Zeichen des Gedenkens, sondern auch ein Zeichen für das verlorene Potenzial und die unzähligen Talente, die der Welt genommen wurden. „Das ist so ein Verlust für die deutsche Gesellschaft, dass diese Menschen nicht mehr da sind“, sagt Barbara Heuss-Czisch. Dem Spruch „man stirbt nicht, wenn der Name noch da ist“ möchte sie Rechnung tragen, „aber ich will auch, dass sie weiter anwesend sind und die Leute merken, dass da etwas fehlt.“