Artikel aus der Stuttgarter Zeitung
22.12.2024 – 18:00 Uhr – Hilke Lorenz
Caroline Hatje hat nur wenige Dokumente über ihre Großmutter. Foto: Lichtgut/Julian Rettig
Lina Hatje wird verdächtigt, eine Weihnachtsgans gestohlen zu haben. Sie muss im Stuttgarter Hotel Silber vorsprechen. Die Enkelin Caroline Hatje erfährt erst spät, dass ihre Oma in Auschwitz ermordet wurde – und trägt nun Erinnerungsfetzen zusammen.
Die dramatischen letzten Monate in Lina Hatjes Leben beginnen im Jahr 1942 – einen Tag vor Heiligabend. Was damals geschehen ist, hat ihre Enkelin Caroline Hatje erst sehr spät erfahren. Da war sie schon eine erwachsene Frau. Es wurde in der Familie nicht sehr viel über die Großmutter gesprochen. Die 68-Jährige schätzt, dass sie vielleicht 14 Jahre alt war, als die Mutter ihr sagte, dass ihre Großmutter in Auschwitz gestorben ist. Mehr nicht.
Nur wenig Wissen über die Großmutter
Auschwitz. Das ist nicht irgendein Ort. Schon gar nicht, wenn die Großmutter SPD-Mitglied war und einer jüdischen, wenn auch nicht orthodoxen, Breslauer Familie entstammte. Wer 1943 in Auschwitz gestorben ist, der wurde ermordet. Ganz gleich, was man der Familie damals mitgeteilt hat. Das Wissen über den Tod der Großmutter war damit in der Welt. Wenn auch bis dahin nur rudimentär.
Das Bild zeigt Lina Hatje mit ihren Kindern. Foto: Lichtgut/Julian Rettig
Caroline Hatje hat ein paar Schriftstücke, Geburtsurkunde, Sterbeurkunde und Kopien von Postkarten auf dem Tisch vor sich ausgebreitet. Nicht sehr viel sei das, sagt sie. Manchmal muss sie lange nach Worten suchen, um das zu erklären, worüber so lange Schweigen lag. Aber sie könnte noch weniger von ihrer Großmutter Lina erzählen, hätte ihre Tante ihr bei einem Besuch in Berlin nicht mit den einleitenden und einigermaßen verstörenden Worten „Hör gut zu, ich erzähl’ das nur einmal!“ von ihrer eigenen Mutter und Caroline Hatjes Großmutter, einer gestohlenen Weihnachtsgans und dem Martyrium in der Stuttgarter Gestapo-Zentrale über die Weihnachtstage 1942 berichtet. Dieses Familienwissen musste offenbar doch irgendwie raus und noch bei jemand anderem abgeladen werden. Und damit auch ein Teil der Schuld, welche die Tante über den Tod ihrer Mutter empfand.
Auch der Bericht, den die Tante über 50 Jahre nach dem Abschied ihrer Mutter verfasst hat, ist durchdrungen vom Gefühl der Schuld, ihre Mutter nicht vor ihrem schweren Schicksal bewahrt haben zu können. Aber wie hätte sie auch ankommen können gegen den Unrechtsstaat mit seiner Mordlust? Jahrelang habe sie „immer wieder von meiner Mutter geträumt“, schreibt die Tante, „wie es wohl war, als sie dort ankam“. Dort, das war das Konzentrationslager Auschwitz.
Offiziell ist Lina Hatje am 21. März 1943 um zwölf Uhr mittags im Häftlingskrankenbau, Konzentrationslager Auschwitz, an Sepsis auf Grund einer Lungenentzündung gestorben. So informierte man den Rechtsanwalt ihres nichtjüdischen Ehemanns Johann. Lina Hatje hätte in einer sogenannten Mischehe in der zynischen NS-Rassen-Logik eigentlich Chancen gehabt, die Mordmaschine der Nationalsozialisten zu überleben. Doch wenn das Regime wollte, fand es immer Gründe, jemanden doch nicht zu verschonen. In Lina Hatjes Fall war es eine Weihnachtsgans, die ihr Leben aus dem Tritt brachte. Und deshalb beginnt die Geschichte ihrer Ermordung auch am 23. Dezember 1942. Kurz vor der vierten Kriegsweihnacht, zu der irgendjemand in der Nachbarschaft offenbar eine Gans braten wollte.
Vom Balkon eines Nachbarn im Stuttgarter Süden sollte das Tier verschwunden sein. Offenbar kam das einigen Leute sehr gelegen, klopften doch an diesem Tag vor Heiligabend Vertreter der Geheimen Staatspolizei an der Wohnungstür der Hatjes und forderten die Ehefrau auf, ins Hotel Silber zur Klärung der Sache zu kommen. Lina Hatje, damals 54 Jahre alt, hatte wohl auch öffentlich unvorsichtigerweise gesagt, Stalingrad sei verloren. Immer wieder hatte ihr Mann sie gemahnt, doch vorsichtig zu sein mit ihren Äußerungen.
Denn eine couragierte Frau war sie zeitlebens. Groß, stattlich, eine Frau mit schwarzen Haaren und dunklen Augen sei sie gewesen, berichtet ihre Tochter Elsa. Die Eltern hatten sich im Gewerkschaftshaus in Hamburg kennengelernt. Weil der Vater im Hauptbetriebsrat der Bahn arbeitete, zog die Familie mit Sohn Gerhard und der Tochter nach Berlin. Die erinnert die Launen ihrer Mutter, die manchmal unwirsch und aufbrausend gewesen sei. In der Rückschau ist ihr klar, dass ihre Mutter mit ihrem Leben nicht zufrieden war, sie wohl mehr Anteilnahme und Beachtung von ihrer Familie gewünscht hätte. Wenn Gäste im Haus waren, sei sie zufrieden gewesen. „Die Weihnachtsfeste waren immer sehr schön“, mit Gästen, Gänsebraten und natürlich einem Weihnachtsbaum.
Mutig begleitet die Tochter ihre Mutter
Ab 1930 wohnte die Familie in Stuttgart in der Weißenhofsiedlung. Mit der Machtübernahme der Nazis wurde die Wohnung dort zu teuer, zumal der Vater seine Arbeit verloren hatte. Die Familie zog in den Süden der Stadt. Von dort machte sich Lina Hatje zusammen mit ihrer 22-jährigen Tochter Elsa, die sie mutig begleitete, am 23. Dezember 1942 auf, die Sache mit der Weihnachtsgans zu klären. Es war der Geburtstag ihres Mannes. Er war im Kino, als die Gestapo kam.
Mutter und Tochter gingen wohl davon aus, die Sache sei schnell erledigt. Aber es kam anders. Im Hotel Silber wurde Elsa von ihrer Mutter getrennt. Durch die Scheiben des Büros beobachtete sie ihre Mutter in einem erregten Gespräch mit den Polizisten. Mit den Worten „Was machen Sie mit meiner Mutter?“ stürmte sie in den Raum. Mit der Drohung, selbst verhaftet zu werden, verwies man sie des Zimmers.
Der Vater schickt seine Tochter zur Gestapo
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als allein nach Hause zurückzukehren. An Heiligabend, dem nächsten Tag, ging sie wieder in die Gestapozentrale, das Hotel Silber. Aber sie durfte ihre Mutter nicht sehen. Sie könne eine Sprecherlaubnis beantragen. Der Familienrat tagte, wer die Mutter besuchen soll. Der Vater schickte Elsa mit den Worten: „Geh du, du weißt, was du fragen kannst, sicher hat sie dir viel zu sagen, was den Haushalt betrifft.“ Noch glauben alle an ein glückliches Ende.
Elsa Hatje traf auf eine gebrochene Frau. „Wir konnten zunächst gar nicht reden“, schreibt sie, „wir haben nur geweint“. Dazwischen brachte die Mutter ein paar Sätze hervor. So trug sie der Tochter auf, die Wäsche liegen zu lassen. Das mache sie, wenn sie nach Haus komme. Und dass im Keller genug Eingemachtes sei. Banalitäten waren das verglichen mit dem, was sie erlebt haben muss. Aber vielleicht hoffte sie, so ihr altes Leben nicht zu verlieren. Sie gab Elsa noch mit auf den Weg, nicht so viel zu arbeiten und ihrem Ehemann auszurichten, dass es ihr leid tue. „Es war das letzte Mal, dass ich meine Mutter sah“, schreibt Elsa später.
Lina Hatjes Entrechtung ging weiter. Einige Wochen verbrachte sie im Arbeitserziehungslager Rudersberg im Schwäbischen Wald. Gedacht war das umgebaute Gasthaus Ritterhof dafür, Zwangsarbeiterinnen oder politische Häftlinge unter härtesten Lebens- und Arbeitsbedingen zu disziplinieren. In der Regel blieben die Frauen zwei Monate, wie die Historikerin Sonja Bauer schreibt.
Zwischenstation Frauenumerziehungslager
Doch Lina Hatje war eine der Frauen, deren Qual nach zwei Monaten kein Ende findet. Drei Postkarten hat Caroline Hatje in Besitz, die ihre Großmutter nach ihrer Verhaftung schrieb. Eine kam aus Rudersberg. Sie bedankte sich für Butter und Brot. In der nächsten Karte teilte sie mit, sie befinde sich bereits auf der Fahrt nach Auschwitz. Sie bat ihren Mann, sofort ein Gesuch einzureichen, ihre Kräfte seien am Ende. Sie habe furchtbare Schmerzen im Unterleib. Wieder bohrte ihre Tochter mutig bei der Gestapo nach, was es damit auf sich habe. Sie bekam die Auskunft, sie könne sich an den Rechtsanwalt Benno Ostertag wenden. Er war der Vermittler zwischen Gestapo und jüdischer Gemeinde. Er prophezeite, die Familie würde die Mutter nie wieder sehen. Auschwitz sei ein Vernichtungslager.
Die Stadt kündigt die Wohnung
Den Hatjes kündigte man im Januar 1943 die städtische Wohnung. Linas Ehemann hielt der Gedanke aufrecht, im zur neuen Wohnung gehörenden Garten könne Lina sich erholen. Wenige Monate später bekommt die Familie die Todesnachricht.
Seit September 2007 liegt ein Stolperstein vor dem Haus in der Karl-Kloß-Straße 40 im Stuttgarter Süden. Von dort war Lina Hatje zu Fuß ins Hotel Silber gelaufen. Einen Tag vor Weihnachten 1942.