Mehr als 500 Stolpersteine erinnern und mahnen in Stuttgart
Am Montag, den 5., und Dienstag, den 6. Oktober 2009, werden in Stuttgart 52 Stolpersteine an 28 Stellen in 9 Stadtbezirken verlegt. Während der Kölner Künstler Gunter Demnig dies wieder selbst vornehmen wird, sorgen die Stolperstein-Initiativen der jeweiligen Stadtbezirke für das begleitende Gedenken. Jede Verlegung wird daher anders sein. So wird in Botnang ein damaliger Nachbarsjunge über Erinnerungen an den Juden Heinrich Pincus berichten. In Stuttgart-Süd wird eine hier lebende Amerikanerin ein selbst verfasstes Gedicht über die Stolpersteine vortragen…
Mehr als 500 Stolpersteine werden nach diesen zwei Tagen in Stuttgart die Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus wach halten. Jedes Opfer hat seine eigene Geschichte, die von den Stolperstein-Initiativen der jeweiligen Stadtteile erforscht wurde: Christian Elsässer aus Vaihingen etwa wurde im Zuchthaus Brandenburg-Görden hingerichtet, weil er sich am Arbeitsplatz bei Bosch kritisch über die Nazis geäußert hatte. Zu den bewegendsten Lebensgeschichten gehören:
– Irene Winter, Hackstr. 24, Stuttgart-Ost: Die 3-jährige Irene Winter und ihre Mutter wurden als Sinti nach Auschwitz deportiert. Während die Mutter die unvorstellbaren Hygienezustände dort überlebte, kam das Kind in die Krankenbaracke und starb. Den Totenschein stellte Josef Mengele, der berüchtigte ?Todesengel von Auschwitz? aus. Bei der Verlegung wird das Zigeli Winter Quartett spielen.
– Gertrud Lutz, geborene Schlotterbeck, Auf dem Haigst 6, Stuttgart-Degerloch: Die überzeugte Kommunistin kämpfte wie ihre ganze Familie von 1933 an gegen die NS-Herrschaft. Von einem Spitzel verraten, wurde sie verhaftet und am 30. November 1944 zusammen mit 9 Angehörigen und Freunden hingerichtet. Ihre 2-jährige Tochter Wilfriede kam in ein NS-Kinderheim. Nach dem Krieg lebte sie bei Frieder Schlotterbeck, dem Bruder ihrer Mutter, der den DDR-Oberen zu unbequem war und unter fadenscheinigen Gründen inhaftiert wurde. Wilfriede kam nun in ein DDR-Kinderheim.
– Otto Hirsch, Gähkopf 33, Stuttgart-Nord: Im Ersten Weltkrieg durfte der Rechtsanwalt und Rechtsrat nicht kämpfen, weil ihn sein Arbeitgeber, die Stadt Stuttgart, nicht freigab. Später war er erstes Vorstandsmitglied der Neckar AG. Der Bau des Neckarkanals Plochingen-Mannheim beherrschte sein Berufsleben, das er 1933 als Jude aufgeben musste. Er wurde nun geschäftsführender Vorsitzender der ?Reichvertretung der deutschen Juden?, der späteren ?Reichsvereinigung der Juden in Deutschland? in Berlin.
– Margarete Königshöfer, Hohenheimer Str. 67, Stuttgart-Mitte: Die 1891 getaufte Frau war die Tochter des bekannten jüdischen Augenarztes Dr. Oskar Königshöfer, der vielen tausend Patienten ihr Augenlicht wiedergegeben hat, der auch arme Augenkranke behandelte und die Stuttgarter Charlottenklinik für Augenkranke, eine der großen Augenkliniken Deutschlands, begründet hat.
– Adolf Cahn, Pfalzstr. 66, Stuttgart-Bad Cannstatt: Cahn lebte in ?privilegierter Mischehe?, musste also nicht in den ?Judenladen?. In einem Geschäft traf er einen Bekannten, der es zum kleinen Nazi-Funktionär geschafft hatte und ihn fragte, was er denn hier zu suchen hätte. Die empörte Antwort überprüfte der Bekannte bei Cahns Arbeitgeber und beim NS-Ortsgruppenleiter. Als Folge wurde Cahn verhaftet, kam erst ins KZ Welzheim und dann ins KZ Mauthausen, wo er angeblich
?auf der Flucht erschossen? wurde.
Nach der Verlegung von 11 Stolpersteinen im Hospitalviertel wird es am Dienstagnachmittag gegen 15 Uhr zum Abschluss eine gemeinsame Veranstaltung der Initiative Stolpersteine Stuttgart-Mitte und des Forums Hospitalviertel e.V. geben, die von Jugendlichen aus verschiedenen Schulen mitgestaltet wird und an der auch die Israelitische Religionsgemeinschaft beteiligt ist.
Weitere Einzelheiten zur Stolpersteinverlegung können dem angefügten Verlegungsplan entnommen oder bei den Kontaktadressen der Stadtteil-Initiativen erfragt werden. Nähere Informationen zum Schicksal der Opfer, für die jetzt Steine gesetzt werden, finden Sie demnächst auch unter dem Menüpunkt “Biografien”.
Die angegebenen Uhrzeiten können wie immer nur eine grobe Orientierung für den geplanten Zeitpunkt der Verlegung sein – Verschiebungen lassen sich trotz sorgfältiger Planung leider nicht ganz ausschließen – Änderungen sind möglich – Wer bei einer Steinverlegung dabei sein will, sollte sich deshalb möglichst frühzeitig am Verlegungsort einfinden! Aufgrund des eng bemessenen Zeitplans kann Gunter Demnig an den vor Ort stattfindenden Rahmenveranstaltungen jeweils nur kurz teilnehmen, die Gedenkfeiern beginnen teilweise vor Eintreffen des Künstlers oder finden erst im Anschluss an die eigentliche Verlegung statt!
Stolpersteine für Stuttgart am Montag, den 5. Oktober 2009 (Uhrzeit~Steinverlegung):
8:00 S-Süd, Mozartstr. 25, 2 Steine für Max und Regina Berber
8:15 S-Süd, Mozartstr. 45, 2 Steine für Cäsar und Martha Bruchsaler
8:30 S-Süd, Olgastr. 121, 2 Steine für Adolf und Lina Lewinnek
8:50 S-Mitte, Hohenheimer Str. 67, 1 Stein für Margarete Königshöfer
9:20 S-Mitte, Gaisburgstr. 18, 2 Steine für Otto und Thekla Rothschild (Verlegung entfällt wegen Baustelle!)
9:40 S-Mitte, Uhlandstr. 21, 1 Stein für Erich Dessauer
10:10 S-Degerloch, Auf dem Haigst 6, 1 Stein für Gertrud Lutz
10:50 S-Ost, Pfahlbronnerstr. 30, 2 Steine für Julius und Julie Dewald
11:10 S-Ost, Hackstr. 24, 1 Stein für Irene Winter
MITTAGSPAUSE ? Herdweg 45
13:30 Cannstatt, Pfalzstr. 66, 3 Steine für Isidor, Lina und Adolf Cahn
13:50 Cannstatt, Pfalzstr. 36, 3 Steine für Ferdinand, Alexandrine und Ury Guggenheim
14:10 Cannstatt, Wildunger Str. 30, 3 Steine für Josef, Rosa und Friedrich Rothschild
14:45 S-Süd, Tübingerstr. 111, 2 Steine für Max und Jaha Fischer
15:00 S-Süd, Hohenstaufenstr. 9, 3 Steine für Manfred und Alice Straus, Sophie Fellheimer
15:15 S-Süd, Böblinger Str. 45, 2 Steine für Jakob und Hilde Lederer
Stolpersteine für Stuttgart am Dienstag, den 6. Oktober 2009 (Uhrzeit~Steinverlegung):
9:00 S-Süd, Immenhofer Str. 12C, 2 Steine für Max und Ida Schweizer
9:30 Vaihingen/Rohr, Peterstr. 26, 1 Stein für Christian Elsässer
10:00 S-Botnang, Himmereichstr. 2, 1 Stein für Heinrich Pincus
10:40 S-Nord, Schottstr. 103, 1 Stein für Sigmund Wolf
11:00 S-Nord, Gähkopf 33, 2 Steine für Otto Hirsch und seine Frau Martha
11:20 S-Nord, Seestr. 64, 2 Steine für Franz und Frieda Karpe
11:50 S-West, Klopstockstr. 57, 2 Steine für Julius und Mina Lindauer
MITTAGSPAUSE ? Herdweg 45
13:30 S-Mitte, Theodor-Heuss-Str. 5, 4 Steine für Albert und Karoline Gerson, Moritz und Anna Reiss
13:50 S-Mitte, Gymnasiumstr. 18B, 1 Stein für Louis Kahn
14:15 S-Mitte, Lange Str. 53, 3 Steine für Louise Kirschbaum, Irma und Lore Ostertag
14:35 S-Mitte, Hospitalstr. 21B, 1 Stein für Arthur Hirsch
15:00 S-Mitte, Hospitalstr. 36, 2 Steine für Gretchen Adelsheimer und Alfred Moritz Frankfurter
Einen Tag vor Beginn der Verlegungsaktion, am Sonntag, den 4. Oktober 2009, wird um 11:00 Uhr im Foyer des Kleinen Hauses in Zusammenarbeit mit dem Staatsschauspiel Stuttgart das Buch über die Stuttgarter NS-Täter vorgestellt. Hermann G. Abmayr wird in seiner Eigenschaft als Herausgeber und Verleger das Projekt erläutern. Die Schauspieler Gabriele Hintermaier und Boris Burgstaller lesen Auszüge aus dem Buch, die Autorinnen und Autoren stehen Rede und Antwort.
Am Montag, den 12. Oktober 2009, findet ab 14:30 Uhr im Sitzungssaal des Rathauses ein wissenschaftliches Symposium über die NS-Krankenmorde als Auftakt- und Begleitveranstaltung zur “Spur der Erinnerung” statt. Hierzu laden der Zentrale Aktionskreis “Spur der Erinnerung”, die Gedenkstätte Grafeneck und das Stadtarchiv Stuttgart herzlich ein.