1. Die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ (Hitler am 30.1.1939 vor dem Reichstag) begann im September 1939 in Polen und im Juni 1941 in der Sowjetunion mit Pogromen und Massenerschießungen jüdischer Männer, dann auch von Frauen und Kindern durch die Einsatzgruppen.
Der Wehrmacht, die am 22.6.1941 in die Sowjetunion einmarschierte, folgten vier besondere Einsatzgruppen. Sie setzten sich aus Einheiten der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (beides SS-Organisationen), Angehörigen der Gestapo, Reservepolizisten älterer Jahrgänge und nicht mehr fronttauglichen Familienvätern zusammen. Oft gehörten Letten, Litauer, Ukrainer und sogenannte Volksdeutsche zu ihren willigen Helfern. Die Einsatzgruppen hatten zunächst den Auftrag, alle „jüdisch-bolschewistischen“ Agenten (angeblich „Partisanen“), d.h. die politischen Kommissare der Roten Armee und die der Kommunistischen Partei angehörenden Juden zu exekutieren. Bald wurden die Massenhinrichtungen auf die gesamte jüdische Bevölkerung ausgedehnt. So zogen die Einsatzgruppen ihre breite Blutspur durch das ganze westliche Russland und erschossen bis Dezember 1941 nicht weniger als 500.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder. (Beim größten Massaker wurden im September 1941 in Babyn Yar 33.771 Kiewer Juden ermordet.)
Befehligt wurden die Einsatzgruppen von hohen SS-Offizieren, von denen viele den Rang eines Generals und manche einen Doktortitel besaßen. Sie übten ihre blutige Tätigkeit in eigener Verantwortung aus und ließen sich weder von der Verwaltung des Ostministeriums noch von der Wehrmacht dreinreden; ihre Befehle erhielten sie direkt von Himmler und Heydrich, die sich wiederum – auch ohne schriftliche Befehle – auf den Willen Hitlers beriefen.
Insgesamt fielen dem grauenvollen Vernichtungswerk der Einsatzgruppen (bis zur Errichtung der Vernichtungslager) annähernd 1,5 Millionen wehrloser Menschen zum Opfer. Sie wurden an Gruben erschossen oder im luftdichten Kastenaufbau der „Gaswagen“ mit den Motorabgasen erstickt.
2. In Deutschland wurde die Shoah 1940/41 vorbereitet: bereits 1939 hatte man (nach der gewaltsamen Abschiebung von mindestens 17.000 jüdischen Polen Ende Oktober 1938 und der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938) in Württemberg und insbes. auch in Stuttgart begonnen, jüdische Einwohner mit Zwang umzuquartieren, was 1940 verstärkt fortgesetzt wurde. Ab Ende 1940 sollten zumindest die größeren Städte „judenfrei“ gemacht werden.
Das „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939 setzte zunächst den Mieterschutz für Juden mit der ebenso zynischen wie menschenverachtenden Begründung außer Kraft, es widerspreche „nationalsozialistischem Rechtsempfinden, wenn deutsche Volksgenossen in einem Hause mit Juden zusammenleben“ müssten. Die Stadt Stuttgart forderte danach sämtliche Juden in „arischen“ Häusern öffentlich auf, sich bis spätestens
1. Dezember 1939 in jüdischem Hausbesitz oder bei jüdischen Mietern einzumieten. Jüdische Hausbesitzer und jüdische Mieter wurden ihrerseits angewiesen, weitere Juden als Untermieter aufzunehmen. Zwangseinweisungen konnten vorgenommen werden.
Um Wohnraum für die deutsche Bevölkerung freizumachen, wurden die jüdischen Mieter von der NSDAP, der Stadtverwaltung und der Gestapo aus ihren bisherigen Wohnungen (und damit auch aus ihrer gewohnten Umgebung) vertrieben und zwangsweise in noch im jüdischen Besitz befindliche Häuser eingewiesen und dort nach und nach konzentriert. Ein Teil dieser Häuser war schließlich ganz oder fast ganz mit jüdischen Menschen so überbelegt, dass sie in solchen „Judenhäusern“ bis zu ihrer „Evakuierung“ und Deportation wie in einem Ghetto hausen mussten. Deshalb wird als Alternative zum nationalsozialistischen Begriff „Judenhaus“ heute auch von „Ghettohäusern“ gesprochen oder die Bezeichnung „Zwangsräume“ verwendet.
Ab 1940/42 wurden aus größeren Städten Juden – aus Stuttgart 250 – in Orte mit einem ehemals hohen Judenanteil (Rexingen, Haigerloch, Buchau, Buttenhausen, Laupheim, Herrlingen, Oberdorf) „evakuiert“. An die 300 ältere, nicht mehr berufstätige Juden pferchte man in notdürftig als „Altenheim“ eingerichtete, renovierungsbedürftige Schlösser (Dellmensingen, Oberstotzingen, Weißenstein, Eschenau) und in das alte Zwiefaltener Amtshaus in Tigerfeld.
Diese „Judenorte“ und „Altenheime“ waren für die meisten Juden jedoch ebenso wie die „Judenhäuser“ nur Zwischenstationen auf dem Weg zur Deportation.
3. Am 15. Oktober 1941 begann die Deportation der deutschen Juden: bis 15. Dezember 1941 transportierten 42 Züge aus 17 deutschen Großstädten 42.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder – getarnt als „Umsiedlung“ mit Baugerät und Werkzeug – in die Ghettos von Lodz, Minsk, Kowno und Riga.
4. Am 1. Dezember 1941 fuhr der 35. dieser Deportationszüge mit 1.013 – zuvor in einer Halle der Reichsgartenschau 1939 auf dem Killesberg gesammelten – jüdischen Männern, Frauen und Kindern aus ganz Württemberg vom Stuttgarter Nordbahnhof nach Riga.
In einem Barackenlager – im ehemaligen Gut Jungfernhof – starben die Menschen „wie die Fliegen“ an Hunger, Kälte und Krankheiten, wie es einer der 42 Überlebenden ausdrückte. Weil den SS-Befehlshabern das Sterben immer noch nicht schnell genug ging, fanden immer wieder Massenerschießungen statt (sogenannte „Sonderaktionen“). Einer solchen „Sonderaktion“ fielen am 26. März 1942 im nahe gelegenen Wald von Bikernieki mindestens 1.500 Menschen zum Opfer.
5. Ab 20. Januar 1942 (Wannseekonferenz) übernahm die SS (Heydrich, Eichmann) die Gesamtorganisation der „Endlösung“. Um möglichst alle Juden unter deutscher Herrschaft vernichten zu können, wurden sechs große Vernichtungslager errichtet, in denen die meisten Menschen noch am Ankunftstag in Gaskammern erstickt und in Krematorien verbrannt wurden.
Zwei dieser „Todesfabriken“ – Chelmno (Kulmhof) und Auschwitz(-Birkenau) – lagen im westlichen Teil Polens, der 1939 in das „Großdeutsche Reich“ eingegliedert worden war, die anderen vier (Treblinka, Sobibor, Majdanek, Belzec) im Generalgouvernement. Dieser Begriff bezeichnet den Teil Polens, der von 1939 bis 1945 unter deutschem Kommando stand, formell jedoch nicht zum Reichsgebiet gehörte.
6. 1942 fuhren vom Stuttgarter Nordbahnhof zwei weitere Züge nach dem Osten ab:
– am 26. April 1942 mit 278 Juden (143 stammten aus Stuttgart) nach Izbica:
Das Dorf im Osten des Generalgouvernements (1939 lebten hier über 80 Prozent Juden) wurde 1942 von der SS zum „Durchgangsghetto“ erklärt und damit zu einem „Drehkreuz des Todes“ gemacht. Zehntausende Juden aus ganz Europa wurden nach meist kurzem Aufenthalt in eines der inzwischen in Betrieb befindlichen Vernichtungslager im Raum Lublin (Belzec, Majdanek und Sobibor) weitertransportiert, viele schon in Izbica selbst ermordet. Von den Deportierten des Transports, der am 26. April 1942 Stuttgart in Richtung Izbica verlassen hatte, kam niemand zurück.
– am 22. August 1942 mit 1.072 alten Personen nach Theresienstadt:
An der Tatsache, dass das angebliche „Altersghetto“ auf böhmischem Boden Teil des Vernichtungsfeldzuges gegen die jüdische Bevölkerung war, ändert sich durch die Nazi-Propaganda nichts. Ein Viertel der insgesamt 140.000 Insassen (etwa 33.000) starben dort vor allem wegen der entsetzlichen „Lebensumstände“ – fast 90.000 wurden nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager wie Treblinka, Majdanek oder Sobibor in den Tod geschickt. Von den 356 Juden aus Stuttgart, die im August 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden, überlebten vier.
7. Von 1942 bis zum 12. Februar 1945 verließen außer den drei großen Deportationszügen ab Nordbahnhof noch weitere 11 „kleine“ Transporte – auch in besonderen Wagen, an fahrplanmäßige Züge angehängt – den Stuttgarter Hauptbahnhof: 6 nach Theresienstadt und 5 nach Auschwitz mit zusammen fast 300 Menschen.
Franz Schönleber/Werner Schmidt (insbes. Neufassung Punkt 2. “Vorbereitung der Shoah” im März 2024), S-Süd